Ein Engel fuer Emily
man kaum einen Mann auf den Straßen. Die meisten verbrachten wie Donald die Woche in Stadtwohnungen und kamen am Freitagabend mit Aktentaschen voller Arbeit nach Hause.
»Dies ist eine Militärstadt«, hatte Irene einmal behauptet. »Die Männer ziehen jeden Montag in den Krieg und kehren am Wochenende mit Bombenneurosen zurück.«
Emily fand Greenbriar nicht so schlecht, aber manchmal schienen die Frauen doch von so etwas wie Mannstollheit besessen zu sein.
Sobald sich herumgesprochen hatte, dass sich ein erwachsenes, heterosexuelles männliches Wesen in der Stadt aufhielt, wurde Michael zur Attraktion des Jahres.
Und er hat es in vollen Zügen genossen, dachte Emily angewidert, während sie mit dem Schwamm über ihr linkes Bein fuhr. Er liebte jede Minute, in der er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, ob sie ihm nun von einsamen Frauen oder von Kindern, die ihre Väter kaum zu Gesicht bekamen, entgegengebracht wurde.
Michael gab es bald auf, sich mit Emilys Recherchen über das Madison-Haus zu beschäftigen - was ihm, wie sie vermutete, nicht gerade schwer fiel -, und widmete sich ganz den Bewohnern von Greenbriar. Zur Mittagszeit ließ er die Papiere auf dem Tisch liegen und schlenderte zu der Ecke, die Emily mit kleinen Stühlen, großen Bodenkissen und einem dicken Teppich für die Kinder eingerichtet hatte. Emily hatte einem Raumausstatter drei Monate in den Ohren gelegen und um diese Sachspenden gebettelt.
Emily stempelte ein Buch nach dem anderen ab -ganz Greenbriar suchte einen Vorwand, hier zu sein, und lieh sich Bücher aus-, und Michael richtete währenddessen so etwas wie eine Reparaturwerkstatt in der Kinderecke ein. Es fing ganz harmlos an, als der Puppe eines Kindes, dessen Mutter Michael in der Stadt willkommen hieß, der Kopf abfiel. Die allein erziehende Mutter, eine geschiedene Frau, bemerkte die großen Tränen in den Augen ihrer kleinen Tochter nicht, aber Michael sah sie sofort. Er kniete sich hin, nahm die Puppe und den Kopf und setzte beides wieder zusammen.
Die Mutter plapperte aufgeregt, ohne wirklich etwas zu sagen, versuchte aber Eindruck auf das Objekt ihrer Begierde zu machen, während Michael nur Augen für die Kleine hatte.
»Kennst du Geschichten?«, flüsterte das kleine Mädchen und sah Michael flehend an.
»Ich kenne viele Geschichten über Engel«, sagte er sanft. »Und ich würde nichts lieber tun, als dir einige davon zu erzählen.«
Das Kind nickte und legte die Hand in Michaels, dann folgte es ihm zu einem der großen Sitzpolster. Die Mutter blinzelte verwirrt, dann wandte sie sich an Emily und fragte, ob sie ihre Tochter eine Weile hier lassen könne, während sie selbst Besorgungen mache.
»Ich ...«, begann Emily. Sie wollte nicht, dass die Bibliothek als Kindertagesstätte missbraucht wurde, aber dann warf sie einen Blick auf Michael und die Kleine; sie saßen auf dem Kissen, und das Kind sah Michael gebannt an, während er seine Geschichte erzählte. Emily erlaubte, dass das Mädchen blieb.
Danach lief alles aus dem Ruder. Kinder aus der ganzen Stadt strömten herbei, brachten kaputte Spielsachen mit und lauschten begeistert Michaels Geschichten.
Um drei Uhr rief Emily ihre Teilzeit-Hilfskraft an und bat sie zu kommen, weil einer allein nicht mehr mit dem Ansturm fertig wurde. Gidrah war so erschrocken über diese Bitte, dass sie kein Wort sagte und in null Komma nichts vor dem Tresen stand. Emily fragte lieber nicht, wie schnell sie gefahren war.
»Grundgütiger Gott«, sagte Gidrah und riss die Augen auf, als sie den Betrieb in der ansonsten so ruhigen Bibliothek sah. »Wer ist das?«
Gidrah war einen guten Kopf größer als Emily und brachte etliche Pfunde mehr auf die Waage, und sie war die großherzigste Person, die Emily je kennen gelernt hatte. Gidrah lebte mit ihrem Mann, der sich nur hin und wieder blicken ließ, und zwei halbwüchsigen Söhnen, deren Leben hauptsächlich aus Essen und Fernsehen bestand, am Rande der Stadt. Sie hatte Emily einmal gestanden, dass die Arbeit in der Bücherei die größte Freude ihres Daseins war.
»Mein Cousin«, antwortete Emily über die Köpfe der drei Frauen hinweg, die darauf warteten, dass ihre Bücher abgestempelt wurden. »Könnten Sie das hier übernehmen, während ich die Bücher für die Kunden heraussuche?«
»Klar.« Gidrahs Augen waren noch immer kugelrund, als sie Michael inmitten der Kinder anstarrte. »Ist er der Rattenfänger von Hameln?«
»Nein, ein Engel«, gab Emily, ohne nachzudenken,
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