Ein Engel fuer Emily
zurück, dann sah sie Gidrah an, zuckte mit den Achseln und verschwand zwischen den Regalen. Sobald sie nicht mehr hinter dem Tresen festsaß, erging es ihr wie all den anderen Frauen - sie wollte unbedingt hören, was Michael den Kindern erzählte.
Mit einem Stapel Büchern in den Armen blieb sie am Rand einer Gruppe stehen und lauschte. Sie wusste selbst nicht, was sie erwartet hatte - vielleicht religiöse Lehren oder Episoden aus der Bibel. Aber er erzählte von Amerikas Geschichte und dem Revolutionskrieg, als wäre er selbst dabei gewesen.
Und er konnte all die Fragen beantworten, die die Kinder ihm stellten. »Was haben sie gegessen?« - »Was haben sie gemacht, wenn sie auf die Toilette mussten?« -»Haben ihre Daddys in der Stadt gearbeitet?« - »Mochten sie Videospiele?«
Nichts brachte Michael aus der Fassung. Emily schlich sich unwillkürlich näher heran, weil sie selbst gern ein paar Fragen gestellt hätte. Aber als Michael zwinkernd zu ihr aufschaute, erinnerte sie sich an ihre Pflichten und brachte den wartenden Kunden die Bücher.
Gidrah stempelte, so schnell sie die Karte aus den Büchern ziehen konnte. »Ich glaube, Sie sollten lieber das Fenster zumachen, sonst fliegen diese Papiere da drüben noch überall herum«, sagte sie und deutete mit dem Kinn zu dem Tisch in der Ecke, auf dem die Dokumente über das Madison-Haus lagen.
Emily beobachtete voller Entsetzen, wie eine Seite nach der anderen umgeblättert wurde, als würde ein Unsichtbarer dort sitzen und die Schriftstücke lesen. Ein dicker Ordner wurde von dem Stapel genommen, auf den Tisch gelegt und aufgeschlagen.
Emily musste sich sehr beherrschen, um nicht loszurennen und so die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, trotzdem stieß sie gegen zwei Stühle, als sie zu dem Tisch eilte. »Hört auf damit«, fauchte sie. »Ihr beide erschreckt meine Kunden.« Augenblicklich blieben die Papiere reglos liegen.
Sie hätte es dabei bewenden lassen können, doch irgendwie hatte sie das Gefühl, zwei Kunden verprellt und ihnen die Benutzung der Bibliothek verwehrt zu haben. Sie hatte kein Recht dazu, nur weil diese beiden Kunden körperlos waren, oder?
»Verdammt, verdammt und noch mal verdammt«, fluchte sie, dann zog sie den großen Wandschirm aus Kork aus der Ecke und stellte ihn vor den Tisch. »Jetzt könnt ihr weitermachen«, sagte sie. »Aber wenn jemand hierher kommt, rührt ihr keinen Finger, verstanden?«
Emily war nicht sicher, aber als sie sich umdrehte, glaubte sie, eine Männerstimme sagen zu hören: »Danke.«
Sie riss die Hände hoch. »Na, großartig. Ich helfe Gespenstern, ihre Langeweile zu überwinden.«
Gidrah deutete auf den Wandschirm. »Mit wem haben Sie geredet?«
»Mit mir selbst«, gab Emily zurück. »Ich habe meine Unterlagen über das Madison-Haus da drüben und will nicht, dass sie jemand anrührt.« Sie machte sich davon, ehe Gidrah fragen konnte, warum sie die Papiere nicht ins Büro brachte. Was hätte sie darauf sagen sollen? Dass es ihr lieber war, wenn diese beiden toten Männer, von denen einer vielleicht ein Mörder gewesen war, ihr Büro nicht betraten?
Jetzt lag sie in der Badewanne und dachte daran, dass es vier Tage lang in der Bibliothek zugegangen war wie in einem Tollhaus. Zuerst waren die Frauen gekommen, um Michael kennen zu lernen - in ihren Augen stand die Hoffnung auf eine wilde Romanze und eine dauerhafte Verbindung. Zumindest glaubte Emily, das in ihren glühenden Blicken lesen zu können. Doch mit der Zeit veränderten sich die Dinge.
»Lasset die Kinder zu mir kommen«, hatte Gidrah am Mittwochnachmittag gesagt, als sie beobachtete, wie Michael mit den Kleinen scherzte und lachte und ihnen ein Spiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert zeigte. »Diese Szene erinnert mich an den Bibelspruch. Er will, dass die Kinder zu ihm kommen - genau wie Jesus.«
»Ich denke, Michael steht auf einer anderen Ebene«, erwiderte Emily spitz, als sie einen Bücherstapel auf den Tresen legte.
»Ebene?«, wiederholte Gidrah lächelnd. »Ich glaube, Sie sind eifersüchtig, Emily. Und das kommt mir merkwürdig vor, da Sie doch mit Donald verlobt sind und bald heiraten wollen. Wie geht’s ihm übrigens? Was sagt er dazu, dass Sie mit diesem muskulösen, dunkelhaarigen Adonis in einer Wohnung wohnen?«
Emily schwieg.
»Gut, gut«, fuhr Gidrah fort. »Der Röte nach zu schließen, die in Ihre Wangen steigt, würde ich sagen, dass Mr. News nichts von diesem ... äh ... Cousin weiß. Sagen Sie, wie sind Sie
Weitere Kostenlose Bücher