Ein Engel im Winter
sich an Ihre unmittelbare Todeserfahrung?«
»Als ich nach meinem Unfall im Koma lag?«
»Ja, welches Bild hat Sie bewogen zu leben?«
»…«
Nathan spürte, wie ihn ein Elektroschock von Kopf bis Fuß durchfuhr, bevor er in Gedanken in einen Lichttunnel geschleudert wurde.
»Was haben Sie gesehen?«, fragte Garrett wieder.
»Wer hat Sie gedrängt, in die Welt der Lebenden zurückzukehren?«
Nathan senkte den Kopf.
»Ich habe ein Gesicht gesehen«, gab er zu, »ein Gesicht, das alterslos wirkte …«
Ja, jetzt sah er wieder alles vor sich. Er sah sich als achtjähriges Kind, sah diesen berühmten Moment, den er immer verdrängt hatte. Er erinnerte sich gut an das milde helle Licht, das ihn dem Tod entgegenbrachte. Dann, plötzlich, im letzten Augenblick, als er sich bereits im Jenseits wähnte, hatte er gefühlt, dass man ihm die Wahl ließ: sterben oder leben.
Um ihm bei seiner Entscheidung zu helfen, hatte man ihm sogar eine Vision geschickt: ein flüchtiges Bild wie einen kurzen Blick in die Zukunft.
Es war ein Gesicht. Das Gesicht jener, die Jahre später seine Frau werden sollte. Rein körperlich war sie anders, aber in seinem tiefsten Innern hatte er immer gewusst, dass sie es war. Sie litt. Sie war allein, und sie rief nach ihm. Deshalb war er zurückgekommen: um an der Seite seiner Frau zu sein, wenn der Tod sie mit sich nehmen würde. Zum dritten Mal stellte Garrett ihm die Frage:
»Nathan, was haben Sie gesehen?«
»Es war Mallory … Sie hatte Angst. Sie brauchte mich.«
Kleine Windböen wirbelten die Wellen des Hudson auf. Der Nebel hatte sich völlig aufgelöst, und man konnte die ganze Bucht überblicken, von den Ufern Brooklyns bis zu denen von New Jersey.
Nathan ging zu Fuß in den nördlichen Teil von Manhattan. Er wusste, die kommenden Tage würden sehr hart werden.
In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander.
Was sollte er zu Mallory sagen, wenn er vor ihr stünde? Würde er stark genug sein? Würde er der überwältigenden Macht gewachsen sein, über die er künftig verfügte?
Eines war sicher: Er wollte Mallory mit all der Liebe umgeben, zu der er fähig war, mit einer tiefen, unauslöschlichen Liebe, die nie aufgehört hatte und die alles überdauern würde.
Im Übrigen besaß er nicht die Kraft, sich auszumalen, wie es weitergehen würde, wenn Mallory nicht mehr an seiner Seite war und er anderen Menschen bei ihrem letzten Schritt helfen musste. Im Augenblick konnte er nur an Mallory denken. Er würde ihr Kompass sein, der Führer ihrer letzten Tage.
Er würde der Bote sein, der sie an der Hand nahm und bis zur Schwelle dieses Ortes begleitete.
Zu diesem unbekannten und gefürchteten Ort.
An den Ort, zu dem wir alle gehen werden.
In Höhe der Trinity Church lief er schneller: Die Frau, die er liebte, erwartete ihn zu Hause.
Und sie brauchte ihn.
Danksagung
Ich danke Valentin Musso für seine zündenden Ideen und seine wertvollen Ratschläge.
Danke, Valen, »Ein Engel im Winter« wäre ohne dich in dieser Form nicht möglich gewesen.
Danken möchte ich auch meinen Eltern und meinem Bruder Julien für ihre Ermunterungen und ihre häufig sehr begründete Kritik.
Des Weiteren sage ich Dank: Bernard Fixot und Caroline Lepee. Es ist ein Privileg, mit euch zu arbeiten.
Kapitel 1
Eingekuschelt in ihr Bett, beobachtete Camille die Amsel, die auf der Fensterbank saß. Der Herbstwind strich durch die Baumkronen, die Sonne spielte mit dem Laub, dessen Schatten auf das Glasdach fielen. Obwohl es die ganze Nacht geregnet hatte, war der Himmel tiefblau und kündigte einen schönen Oktobertag an.
Am Fuß des Bettes hob ein Golden Retriever mit cremefarbenem Fell den Kopf in ihre Richtung.
»Komm her, Buck, komm her«, rief Camille und klopfte auf ihr Kissen.
Der Hund ließ sich nicht zweimal bitten. Mit einem Satz war er bei ihr und nahm seine morgendlichen Streicheleinheiten entgegen. Das junge Mädchen kraulte seinen Kopf und seine hängenden Ohren, dann gab sie sich einen Ruck.
Na los, meine Liebe!
Widerwillig verließ sie ihr warmes Bett, hatte aber im Handumdrehen Trainingsanzug und Turnschuhe angezogen und ihr Haar zu einem lockeren Knoten gebunden.
»Auf geht’s, Dicker, ab zum Joggen!«, rief sie und rannte die Treppe ins Wohnzimmer hinunter.
Die um ein zentrales Atrium angelegten drei Stockwerke des Hauses lagen im Sonnenlicht. Das elegante Brownstone-Gebäude war seit drei Generationen im Besitz der Familie Larabee.
Modern und minimalistisch
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