Ein Engel im Winter
diesen Naturmaterialien wie Holz und Marmor, die seine Umgebung prägten und ohne sichtbare Schäden die Zeit überstanden.
An einer holzgetäfelten, lasierten Wand hatte er Zeichnungen von Mallory mit Reißzwecken befestigt, Skizzen aus glücklichen Tagen.
Angst erfüllte ihn und zugleich spürte er, wie heftiger Zorn in ihm aufstieg.
Warum er? Und warum so?
Er wollte noch nicht so schnell sterben. Er hatte noch so vieles zu tun: Er wollte erleben, wie seine kleine Tochter heranwuchs, und er wollte seine Frau zurückerobern.
Es gibt andere, die vor mir gehen könnten!
Vielleicht habe ich in meinem Leben nichts Überragendes geleistet, aber ich habe auch nichts wirklich Schlimmes angestellt.
Wenn diese Unglücksboten existierten, müsste es dann nicht ebenfalls eine gewisse Ordnung oder Zusammenhänge in Bezug auf den Tod geben?
Natürlich nicht! Jede Sekunde sterben Kinder und Unschuldige. Der Tod achtet nicht auf Gefühle. Die Menschen lassen diesen Kelch an sich vorübergehen und trösten sich damit, dass Gott jene zu sich ruft, die er liebt.
Er wollte nirgendwohin abberufen werden. Er wollte leben. Hier und jetzt. Und wollte mit jenen leben, die er liebte.
Was sollte er tun?
Es lag nicht in seinem Wesen, abzuwarten, was geschah.
Angesichts einer ungewöhnlichen Situation musste er sich an etwas halten, und er musste es schnell tun, jetzt, da der Countdown lief.
Er ging zu dem Regal, auf dem ein Gipsabguss von Bonnies Hand lag.
Er legte seine Hand auf die seines Kindes, und wieder einmal dachte er an seine eigene Kindheit zurück.
In seiner Erinnerung war seine Kindheit ein Chaos, aus dem er weder Spielsachen noch Fotoalben gerettet hatte. Es war bei ihnen nicht üblich gewesen, Fotos zu machen.
Nathan blickte sich im Raum um. Unter dem gleichmütigen Blick einer Leopardin aus Stein, die ihm Jordan aus Rajasthan mitgebracht hatte, hielt ein toskanischer Engel aus Terracotta neben der Treppe Wache.
Auch wenn er zu Reichtum gelangt war, wusste er, dass nichts die Kümmernisse seiner Kindheit ungeschehen machen konnte.
Nathan trug es niemandem nach. Im Gegenteil: Er wusste genau, dass er sich in diesen harten Jahren die Kraft geholt hatte, um seinen Charakter zu festigen.
Denn als er später die Universität besuchte, hatte sich alles verändert. Er hatte seine Chance nicht ungenutzt gelassen. Er wollte Erfolg haben und hatte unermüdlich geschuftet, hatte ganze Tage in den riesigen Sälen der Universitätsbibliotheken verbracht und sich in alle möglichen Gesetzbücher und Fallstudien vertieft.
Aber er ging auch auf den Sportplatz. Er war kein besonders guter Sportler, aber wider Erwarten war er einer der Favoriten der Cheerleader, die keine Gelegenheit ausließen, sich um ihn zu drängen.
Seit dieser Zeit hatte man ihn nicht mehr als Sohn einer Haushaltshilfe aus Queens angesehen, sondern als einen viel versprechenden Anwalt mit einer glänzenden Zukunft.
Aus jener Zeit hatte er viele Erinnerungsstücke aufbewahrt.
Er durchquerte den Raum, griff nach dem schmiedeeisernen Geländer und stieg eilig die schiefergedeckten Stufen der Treppe hinauf, die zu seinem Schlafzimmer und seinem Büro führte.
Oben trat er hinter die Wand aus Milchglas und Metall, die eine kleine Ruheecke verbarg. Er hatte sie als eine Art Wohnzimmerbibliothek mit schrägen Wänden eingerichtet, in der er seine Platten und CDs aufbewahrte.
An den Wänden hing eine ganze Sammlung von Basecaps und Trikots mit dem Zeichen der Yankees. Auf einem Regal ruhte ein Baseball neben einigen Sporttrophäen, die er an der Universität gewonnen hatte. Daneben stand ein Foto, das ihn mit seinem ersten Auto zeigte, einem Mustang, den er damals gebraucht gekauft hatte. Der Wagen hatte bereits ein paar hunderttausend Kilometer auf dem Tacho.
Zum ersten Mal seit langem betrachtete er voller Wehmut seine alten Platten, die aus den Achtzigerjahren stammten. Musikalisch gesehen war es eine gute Zeit gewesen: Pink Floyd, Dire Straits, die Bee Gees, Madonna, bevor sie zu einer Ikone wurde.
Darunter befand sich eine noch ältere Platte.
Sieh mal an, ich erinnere mich nicht an sie. Vielleicht gehörte sie Mallory.
Er nahm die 33er-Platte aus dem Regal.
Es war Imagine, das berühmte Album von John Lennon.
Auf dem Cover war der Kopf des Ex-Beatle abgebildet. Sein Blick ging ins Leere, wie ein Fenster, das auf einen wolkenverhangenen Himmel zeigte. Lennon glich mit seiner kleinen runden Nickelbrille schon einem Gespenst, das am Firmament
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