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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Musso
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er bislang mehr oder weniger verdrängt hatte, überfluteten ihn jetzt. Mit zitternden Händen und pochendem Herzen las er weiter.
    20.   September 1972
    Heute Morgen hat der Junge das Bewusstsein wiedererlangt, und man hat mich sofort benachrichtigt.
    Ich habe ihn gründlich untersucht und gestehe, ich bin sprachlos. Er ist zwar sehr geschwächt, aber er kann alle Glieder bewegen und versteht all unsere Fragen.
    Er heißt Nathan Del Amico.
    Er ist ein schüchternes und verschlossenes Kind, wirkt aber sehr intelligent. Ich konnte ein paar Worte mit ihm wechseln.
    Um ihn abzulenken, habe ich meinen Plattenspieler in sein Zimmer gebracht und ihm die Platte von Lennon gegeben. Er scheint die Musik zu mögen …
    Im Laufe des Vormittags hat ihn seine Mutter besucht. Sie ist Italienerin und arbeitet als Haushaltshilfe für Jeffrey Wexler, einen Geschäftsmann aus Boston, der auf der Insel einen Zweitwohnsitz besitzt. Sie war sehr besorgt. Ich wollte sie beruhigen, indem ich ihr erklärte, dass ihr Sohn stark und sehr mutig gewesen sei. Aber sie beherrscht unsere Sprache sehr schlecht und hat vermutlich nur die Hälfte von dem verstanden, was ich ihr erklärte.
    Nachmittags kam seine kleine Freundin. Sie ist Wexlers Tochter. Sie war dermaßen verängstigt, dass ich ihr erlaubte, den Jungen kurz zu sehen. Sie wirkt sehr reif für ihr Alter und scheint ihn sehr zu mögen. Sie kann ihm im Übrigen sehr dankbar sein, denn er hat sie vor dem Ertrinken gerettet.
    21.   September 1972
    Vielleicht bin ich gestern zu optimistisch gewesen.
    Heute Morgen habe ich mich lange mit Nathan unterhalten. Seine Worte waren verworren. Ich frage mich, ob der Unfall letzten Endes nicht doch Folgeschäden haben wird.
    Andererseits ist er ein faszinierendes Kind mit einem reichen Wortschatz, das sich für sein Alter schon sehr gut ausdrücken kann.
    Ich habe das Gespräch auf Kassette aufgenommen.
    Ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll.
    Nathan musste diese Aufnahme unbedingt finden. Er wandte sich einem anderen Regal zu, auf dem Schachteln mit Kassetten standen. Er begann so begierig darin herumzuwühlen, dass er die Hälfte umwarf.
    Schließlich fand er eine Kassette mit der Aufschrift »21-09-72«.
    Auf dem Schreibtisch entdeckte er neben dem Computer eine Hi-Fi-Anlage. Er legte die Kassette ein und kurz danach hörte er Stimmen aus der Vergangenheit, die ihn tief bewegten.
    Goodrich sprach als Erster, in betont heiterem Ton:
    »Hi, Champion.«
    »Guten Tag, Herr Doktor.«
    Nathan hatte völlig vergessen, wie seine Stimme als Kind geklungen hatte. Sie war fast nicht zu hören. Er stellte den Apparat lauter.
    »Gut geschlafen?«
    »Ja, Herr Doktor.«
    Im Hintergrund hörte man das Geräusch eines rollenden Karrens. Goodrich horchte ihn vermutlich gerade ab, denn er stellte ein paar Fragen zu seinem Gesundheitszustand. Dann fragte er:
    »Erinnerst du dich an das, was geschehen ist?«
    »Sie meinen an den Unfall?«
    »Ja, bitte erzähle.«
    Es herrschte Stille, sodass Goodrich seine Frage wiederholte:
    »Erzählst du mir bitte alles?«
    Nach einer neuerlichen Pause hörte Nathan sich antworten:
    »Ich wusste, dass ich tot war.«
    »Wie bitte?«
    »Ich wusste, dass ich tot war.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Weil Sie es gesagt haben.«
    »Ich verstehe dich nicht.«
    »Als ich auf der Bahre eingeliefert wurde, sagten Sie, dass ich tot sei.«
    »Hm … Das habe ich so nicht gesagt, und du konntest mich doch auf keinen Fall hören.«
    »Doch, ich war außerhalb meines Körpers und habe Sie beobachtet.«
    »Was sagst du da?«
    »Sie haben ganz laut Worte geschrien, die ich nicht verstanden habe.«
    »Du siehst, dass …«
    Aber Nathan unterbrach ihn:
    »Die Krankenschwester kam mit einem Wagen, auf dem zwei Instrumente lagen, die Sie aneinander gerieben haben, bevor Sie sie auf meinen Brustkorb drückten. Dann riefen Sie ›Los!‹, und mein Körper bäumte sich auf.«
    Als Nathan diese junge beharrliche Stimme hörte – seine Stimme –, geriet er außer Fassung. Am liebsten hätte er die Aufzeichnung angehalten, denn er ahnte, dass ihm das Folgende nur Schmerzen bereiten würde, aber seine Neugier war stärker.
    »Woher weißt du das alles? Wer hat dir das erzählt?«
    »Niemand. Ich schwebte über dem Raum und habe alles gesehen. Ich konnte die Klinik überfliegen.«
    »Ich glaube, du redest wirres Zeug.«
    Nathan schwieg, und wieder entstand Stille. Dann fuhr Goodrich in ungläubigem Ton fort:
    »Was hast du dann

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