Ein Engel im Winter
vierzehn Mal mehr Tote.
Sie zerfallen in den Gräbern zu Staub, geraten in unseren Köpfen in Vergessenheit. Sie würzen unsere Erde und unsere Lebensmittel.
Manche fehlen uns.
Bald, in einigen Milliarden Jahren, wird die Sonne ihre Reserven an Wasserstoff erschöpft haben, ihr Umfang wird hundert Mal so groß sein wie heute. Die Temperatur auf der Erde wird zweitausend Grad Celsius übersteigen, aber es ist wahrscheinlich, dass die Menschheit bis dahin schon verschwunden sein wird.
Das Universum wird sich zweifellos ausdehnen, nach und nach werden seine Galaxien sich auflösen. Im Laufe der Zeit werden auch die Sterne erlöschen und im Kosmos einen riesigen Friedhof bilden.
An jenem Abend hängen die Wolken tief und die Nacht ist friedlich.
Nathan sitzt in seiner Wohnung im San Remo und betrachtet die Lichter der Stadt.
Er lauscht dem Lärm, dieser speziellen New Yorker Geräuschkulisse aus Hupkonzerten und den Sirenen der Kranken- und Polizeiwagen.
Er ist allein. Er hat Angst.
Seine Frau fehlt ihm.
Und er weiß, dass er bald sterben wird.
Kapitel 14
Die Toten wissen nur das eine:
Es ist besser am Leben zu sein.
Aus dem Film Full Metal Jacket
von Stanley Kubrick
15. Dezember
Durch die gewölbten Rahmen der großen Fenster schien die Sonne in den geräumigen Aufenthaltsraum des Lofts.
Die in phosphoreszierendem Weiß gestrichenen Wände waren wie im Hochsommer in grelles Licht getaucht. Es wurde heiß. Automatisch schlossen sich die Rollläden.
Nathan lag auf einem flachen Sofa aus hellem Tweed.
Er stellte eine leere Flasche Corona auf den hellen Eichenparkett-Fußboden. Es war seine vierte, und da er Alkohol nicht gewohnt war, war ihm ziemlich übel.
Seit dem frühen Morgen ging er rastlos in seiner Wohnung auf und ab.
Candice war tot. Garrett besaß also sehr wohl diese verdammte Gabe, den Tod eines Menschen vorherzusehen.
Das hieß für ihn: Das Ende der Reise war gekommen. Inzwischen zweifelte er nicht mehr daran. Goodrich war für den jungen Kevin da gewesen, für Candice und jetzt für ihn. Es fiel ihm schwer, dies einzusehen, aber er war gezwungen, es zu akzeptieren.
Wie sollte er sich jetzt verhalten – als Todgeweihter? Wie sollte er mit diesem Schock fertig werden?
Er lebte in einer Welt, die vom Wettbewerb bestimmt wurde, in einer Welt, die wenig Platz für Schwache ließ. Da er immer versucht hatte, den Übermenschen zu spielen, hatte er beinahe vergessen, dass er sterblich war.
Er erinnerte sich zwar an den Vorfall damals in Nantucket, aber offensichtlich hatte er keine Lehre daraus gezogen.
Nathan erhob sich und trat ans Fenster, das einen märchenhaften Blick auf den Park bot. Der Alkohol hatte ihm Kopfschmerzen bereitet. Wieder und wieder verfolgten ihn schreckliche Bilder der Trennung, der Trauer und des Leidens. Er dachte an Josh. Als die Sozialarbeiterin ihm kurz nach dem Banküberfall den Kleinen weggenommen hatte, empfand er einen tiefen Schmerz. Was für eine Kindheit erwartete Josh als Waisenkind von gerade einem Jahr? Vermutlich landete er bei verschiedenen Pflegeeltern, in Familien, bei denen er immer das fünfte Rad am Wagen sein, bei denen er Liebe und Fürsorge vermissen würde.
Nathan war sehr niedergeschlagen. Nein, er war nicht mächtig. Niemand war es wirklich. Alles hing an einem seidenen Faden: sein Leben wie einst das Leben von Sean.
Und dabei hatte er immer alles voraussehen wollen. Obwohl er gewusst hatte, dass es Mallory ärgerte, hatte er alle möglichen Versicherungen abgeschlossen, um sich vor Schäden und Risiken zu schützen – Einbruch, Brand, Überschwemmung, Blitzschlag, Terrorismus –, aber er hatte nie auch nur den geringsten Versuch unternommen, sich auf das bittere Ende vorzubereiten.
Wenn man ihn fragte, antwortete er, dass er natürlich an Gott glaube. Was hätte er sonst antworten sollen? Schließlich lebte er in Amerika, in einem Land, in dem sogar der Präsident auf die Bibel schwören musste.
Aber im Grunde seines Herzens hatte er nie auf ein Jenseits gehofft oder an ein Weiterleben der Seele geglaubt.
Er blickte sich um. In seiner Wohnung gab es nichts Auffälliges. Die Raffinesse lag in der Schlichtheit und dem modernen Stil der Einrichtung. Alles war Raum, Licht und Transparenz. Er liebte diesen Ort. Nach seiner Scheidung hatte er die Wohnung selbst eingerichtet. Mallory wäre sowieso nie bereit gewesen, im ehemaligen Apartment ihres Vaters zu wohnen. Gewöhnlich fühlte er sich hier in Sicherheit, beschützt von all
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