Ein Engel im Winter
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Irgendjemand fragte: »War sie seine Frau?«
Wenige Minuten später traf der Krankenwagen von Emergency Medical System ein.
Der Anwalt nahm Josh ganz fest in die Arme. Wie durch ein Wunder war das Kind nicht verletzt worden, aber es hatte einen schweren Schock. Nathan folgte der Trage, auf der Candice abtransportiert wurde, bis auf die Straße hinaus. In dem Augenblick, als die Schutzhülle über Candices Gesicht gezogen wurde, fragte er sich, ob für sie wirklich alles zu Ende war. Was geschieht im Augenblick des Todes? Gibt es etwas danach? Eine Fortsetzung?
Immer die gleichen Fragen, die er sich schon so oft nach dem Tod seiner Mutter und seines Sohnes gestellt hatte.
Zum ersten Mal seit einer Woche stand eine leuchtende Sonne über dem Winterhimmel von New York. Die Luft war rein, und es wehte ein kalter, trockener Wind.
Draußen vor der Bank trösteten sich die traumatisierten Menschen nach diesem grauenvollen Erlebnis. In Nathans Armen drohte Josh an seinen Schluchzern zu ersticken.
Der Anwalt war völlig benommen und begann zu taumeln. Von allen Seiten drang Stimmengewirr an seine Ohren, seine geröteten Augen brannten vom Blaulicht der Polizeiwagen. Die Geiseln wurden bereits fotografiert und von Journalisten befragt.
Von Gewissensbissen und Schuldgefühlen gequält tat Nathan sein Möglichstes, um Josh vor diesem Tumult abzuschirmen.
Während man die Leiche des Bankräubers abtransportierte, trat ein Polizist der NYPD in dunkelblauer Uniform auf ihn zu, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Es war ein Latino, klein und gedrungen, mit einem jugendlichen Gesicht.
Der Polizist begann zu sprechen, aber Nathan hörte ihm nicht zu. Mit dem Ärmel seines Hemds säuberte er behutsam Joshs Gesicht, in dem sich Blutstropfen mit Tränen vermischt hatten. Erneut erfüllte ihn tiefe Qual, und er konnte die Tränen nicht zurückhalten.
»Ich bin schuld an ihrem Tod! Meinetwegen war sie hier!«
Der Polizist bemerkte voller Mitgefühl:
»Sie konnten das nicht voraussehen, Sir. Es tut mir sehr Leid.«
Nathan setzte sich auf den Asphalt und vergrub den Kopf in den Händen. Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. All das war seine Schuld. Er hatte Candice in den Tod getrieben. Hätte er ihr nicht dieses verdammte Geld angeboten, dann hätte sie diese Bank nie betreten und nichts wäre ihr passiert. Er allein war für diese Katastrophe verantwortlich. Er war nur eine Schachfigur gewesen, die genau in diesem Augenblick hier aufgestellt worden war, um an einem Geschehen teilzunehmen, das ihn überforderte. Aber wie konnte man eine Welt akzeptieren, in der Tod und Leben derart mit dem Schicksal verwoben waren?
Er glaubte, Goodrichs Stimme zu hören, die wie ein Echo wiederholte:
Man kann den endgültigen Entschluss nicht in Frage stellen, und niemand hat Einfluss auf die Todesstunde.
Er hob sein tränenüberströmtes Gesicht dem Polizisten entgegen.
Um ihn zu trösten, wiederholte dieser noch einmal:
»Sie konnten das nicht voraussehen, Sir.«
Kapitel 13
Ich beschwöre dich,
denk Tag und Nacht darüber nach.
Cicero
Anfangs gab es weder Vergangenheit noch Zukunft. Das war vor dem Urknall, der die Materie, den Raum und die Zeit hervorbrachte.
In den Enzyklopädien kann man lesen, dass die Geschichte unseres Universums vor fünfzehn Milliarden Jahren ihren Anfang nahm. So alt sind auch die ältesten Sterne.
Die Erde entstand vor knapp fünf Milliarden Jahren. Sehr schnell, nur eine Milliarde Jahre später, bildeten sich die ersten Lebewesen: die Bakterien. Anschließend wurde der Mensch erschaffen.
Jeder weiß es, vergisst es aber wieder: Die Zeit der Menschheit ist im Vergleich zur Dauer des Universums verschwindend gering. Und innerhalb dieser verschwindend kurzen Zeit begannen die Menschen erst im Neolithikum sesshaft zu werden, die Landwirtschaft zu erfinden, Städte zu bauen und Handel zu treiben.
Nur wenig später, Ende des 18. Jahrhunderts, erfolgte ein weiterer Einschnitt. Allmählich gewann die Wirtschaft an Bedeutung, was die Produktion steigerte. Später bezeichnete man das als industrielle Revolution und als Moderne.
Doch vor dieser Zeit lag die Lebenserwartung bei knapp fünfunddreißig Jahren.
Der Tod war allgegenwärtig. Er war ganz normal. Man akzeptierte ihn.
Von Beginn an haben mehr als achtzig Milliarden Menschen vor uns gelebt, Städte gebaut, Bücher gelesen und Musik gemacht.
Heutzutage sind wir nur sechs Milliarden lebende Menschen. Wir verzeichnen also fast
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