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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Musso
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gesehen?«
    »Ich habe keine Lust mehr, mit Ihnen zu reden.«
    »Hör zu, es tut mir Leid. Ich wollte nicht sagen, dass du wirres Zeug redest, aber das, was du mir gerade erzählt hast, ist so erstaunlich und außergewöhnlich, dass ich es kaum glauben kann. Bitte, Champion, sag mir, was du dann gesehen hast.« »Ich wurde durch eine Art Tunnel gezogen, mit rasender Geschwindigkeit.«
    Es entstand eine Pause. Dann forderte Garrett ihn auf, fortzufahren.
    »Ich höre.«
    »Während ich in dem Tunnel war, habe ich mein ganzes Leben vor dem Unfall gesehen, ich habe auch Menschen erkannt. Ich glaube, sie waren tot.«
    »Tote Menschen? Was taten sie?«
    »Sie halfen mir, den Tunnel zu durchqueren.«
    »Und was war am Ende des Tunnels?«
    »Ich kann es nicht in Worte fassen.«
    »Bitte, versuch es.«
    Das Kind fuhr also fort. Seine Stimme wurde immer leiser. »Eine Art weißes Licht – stark und mild zugleich.«
    »Erzähl weiter.«
    »Ich wusste, dass ich sterben würde. Ich wollte auf das Licht zugehen, aber da war so etwas Ähnliches wie eine Tür, die mich daran hinderte.«
    »Und was war vor dieser Tür?«
    »Ich kann es nicht in Worte fassen.«
    »Bemüh dich, Champion, ich bitte dich.«
    Goodrichs Stimme klang jetzt flehend. Nach einer neuerlichen Pause fuhr Nathan fort:
    »Da waren Wesen.«
    »Wesen?«
    »Eines von ihnen hat die Tür geöffnet, um mich ins Licht treten zu lassen.«
    »Hast du Angst gehabt?«
    »Nein, im Gegenteil. Ich fühlte mich wohl.«
    Goodrich konnte der Logik des Kindes nicht folgen. »Aber du hast doch gesagt, du habest gewusst, dass du sterben würdest.«
    »Ja, aber das war nicht beängstigend. Und dann …«
    »Fahr fort, Nathan.«
    »Ich spürte, dass man mir die Wahl ließ.«
    »Was soll das heißen?«
    »Man erlaubte mir, nicht zu sterben, wenn ich nicht dazu bereit wäre.«
    »Und dafür hast du dich entschieden?«
    »Nein. Ich wollte sterben. Ich fühlte mich so wohl in dem Licht.«
    »Wie kannst du das sagen?«
    »Ich wäre am liebsten in diesem Licht aufgegangen.«
    »Warum?«
    »Weil es sich so abspielt.«
    »Was?«
    »Der Tod.«
    »Und warum bist du nicht tot?«
    »Weil man mir im letzten Moment eine Vision geschickt hat und ich beschlossen habe, zurückzukehren.«
    »Was war das für eine Vision?«
    Mit verschleiertem Blick hörte Nathan sich mit beinahe tonloser Stimme antworten.
    »Tut mir Leid.«
    »Was?«
    »Das geht Sie nichts an.«
    »Was war das, Nathan?«
    »Das geht Sie nichts an. Tut mir Leid.«
    »Kein Problem, Champion, kein Problem. Jeder hat ein Recht auf seine Geheimnisse.«
    Und damit endete die Aufzeichnung. Nathan begann zu weinen. Er weinte so ungehemmt und bitterlich, wie nur Kinder es können. Dann fing er sich wieder und drückte die Vorlauftaste, aber es kam nichts mehr.
    Also vertiefte er sich erneut in das Tagebuch.
    23.   September 1972
    Seit zwei Tagen denke ich unaufhörlich über Nathans Worte nach und verstehe immer noch nicht, wie er mir so genaue Details über die medizinische Versorgung berichten konnte, die wir ihm haben angedeihen lassen.
    Es war beinahe so, als wäre er aus dem Jenseits zurückgekehrt.
    Noch nie habe ich etwas Derartiges aus dem Mund eines Patienten gehört, erst recht nicht aus dem Mund eines Kindes. Das ist wirklich beunruhigend, und ich würde gern mit Kollegen darüber reden, aber ich habe Angst, dass dieses Thema in Medizinerkreisen tabu ist.
    Sicher, es gibt da die Schweizerin Kübler-Ross vom Billings Hospital in Chicago. Ich habe in Life gelesen, dass sie ein Seminar über Gespräche mit Sterbenden veranstaltet hat. Ich glaube, der Artikel sorgte für einen Skandal, und sie wurde wegen dieser Sache entlassen. Doch es heißt, dass sie angefangen hat, dutzende Zeugenaussagen von Personen zu sammeln, die solche Erfahrungen gemacht haben.
    Ich überlege, ob ich Kontakt mit ihr aufnehmen soll.
    25.   September 1972
    Heute wurde der Junge entlassen. Da sein Allgemeinzustand als zufrieden stellend beurteilt wurde, konnte ich ihn nicht länger hier behalten. Gestern Abend habe ich erneut versucht, ein Gespräch mit ihm zu führen, aber er war verschlossen wie eine Auster, und ich glaube, mehr werde ich ihm nicht entlocken können. Als seine Mutter ihn heute Morgen abholte, habe ich sie gefragt, ob sie mit ihrem Sohn über Engel oder über das Paradies geredet hat. Sie versicherte mir, dass dies nicht der Fall sei, und ich habe nicht weiter gefragt.
    Als Nathan sich verabschiedet hat, habe ich ihm den Plattenspieler und

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