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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Musso
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viele Menschen sterben sehen. Der Tod gehört zu meinem Beruf. Aber das hat nichts mit dem zu tun, was ich im Augenblick durchmache.
    Ich habe eine weitere Flasche entkorkt, einen berühmten Wein, den ich wie einen gewöhnlichen Rachenputzer hinunterkippe.
    Heute, in einem lichten Moment, hat sie mich um Morphium gebeten. Um »die« Dosis Morphium. Ich hatte mich davor gefürchtet, ich wusste genau, dass sie mich früher oder später darum bitten würde.
    Ich habe mit dem Arzt darüber gesprochen. Er hat sich nicht lange geziert.
    Nathan legte das Tagebuch beiseite – aufgewühlt von dem, was er gerade gelesen hatte.
    Er ging ins Wohnzimmer hinunter, löschte die beiden Windlichter, schloss die Tür und ging in die Nacht hinaus.
    Gibt es einen Ort, zu dem wir alle gehen?

Kapitel 17
    Die Zeit, leben zu lernen,
    ist bereits vorüber…
    Aragon

    Er fuhr auf verschneiten Straßen durch die Nacht. Dieser Abend war schwer zu ertragen gewesen. All diese aufrüttelnden Emotionen hatten ihn in eine unbestimmte Melancholie gestürzt, die sich nach und nach in Furcht verwandelte. Er hatte das entsetzliche Gefühl, die Kontrolle über sein Leben verloren zu haben.
    Auf diesen einsamen Straßen kam es ihm für Momente so vor, als sei er nicht mehr von dieser Welt, sondern bereits eine Art Gespenst geworden, das durch die Landschaft von Neuengland wandelte.
    Und dabei hatte er sich so oft über sein Leben beklagt: zu viel Arbeit, zu viele Steuern, zu viele Zwänge .
    Verdammt noch mal, wie blöd war er gewesen! Es hatte nichts Schöneres geben können als sein Leben. Schließlich war selbst ein trauriger Tag ein gelebter Tag. Das begriff er erst jetzt. Schade, dass ihm das nicht viel früher bewusst geworden war.
    Nun, du bist nicht der Erste, der das merkt, mein Alter. Darin liegt das ganze Problem mit dem Tod: Er bringt dich auf die wesentlichen Fragen, wenn es bereits zu spät ist.
    Er lächelte enttäuscht und betrachtete sich im Rückspiegel. Der kleine Spiegel zeigte ihm das Bild eines Menschen auf Bewährung. Was dachte er in seinem tiefsten Innern wirklich über den Tod?
    Na los, die Zeit der Lügen ist vorbei, mein kleiner Nat. Ich werde dir sagen, was geschehen wird: Das Herz hört auf zu schlagen, das ist alles. Der Mensch ist nur eine Ansammlung von Zellen. Sein Körper verfault in der Erde oder verbrennt im Ofen des Krematoriums, und dann ist Schluss. Basta. Der ganze Rest ist nur Blendwerk.
    Das waren seine Gedanken, als er durch die Nacht fuhr.
    Die Kälte war spürbarer geworden. Weißer Hauch entströmte seinem Mund. Er drehte die Heizung voll auf und überließ sich wieder seinen Gedanken.
    Und wenn der Mensch, trotz alledem, nicht auf seine fleischliche Hülle beschränkt war? Wenn es noch etwas anderes gäbe?
    Ein Geheimnis.
    Wenn tatsächlich eine vom Körper getrennte Macht existierte?
    Eine Seele.
    Warum eigentlich nicht, wenn es sogar Wesen gab, die fähig waren, den Tod vorherzusehen. Hätte man ihm vor einem Jahr von irgendwelchen Boten erzählt, er hätte es für einen Scherz gehalten. Und heute zweifelte er nicht einmal mehr an ihrer Existenz.
    Aber selbst angenommen, es gäbe eine Energie, die den Körper nach dem Tod verlassen würde, welchen Weg würde sie einschlagen? Und wo würde sie hingehen? In diese »andere Welt«, in deren Nähe er als Kind geraten zu sein glaubte?
    Die unmittelbare Todeserfahrung hatte ihn zweifellos an die Tore zu etwas anderem geführt. Der Tod schien damals gefährlich süß, unbeschreiblich anziehend wie der künstliche Schlaf in der Narkose. Er hatte sich so wohl gefühlt. Warum also war er zurückgekehrt? Er bemühte sich, diese Erinnerung zu verscheuchen. Er ahnte, dass er noch immer nicht bereit war, sich dieser Erfahrung seines Lebens zu stellen.
    Jetzt hielt die Furcht ihn gefangen. Er hätte viel dafür gegeben, weiterhin am Spiel teilnehmen zu dürfen, und sei es nur für einige Zeit, nur für einige Tage, nur für einige Stunden.
    Je mehr er sich der Stadt näherte, desto dichter wurde der Verkehr. Bald kündigte ein Schild an, dass es nicht mehr weit nach New York war, und eine Stunde später hatte er das San Remo erreicht. Er durchquerte die elegante Eingangshalle mit ihrem gedämpften Licht und ihren auf alt getrimmten Dekorationen. Von weitem erkannte er Peter, der brav auf seinem Posten saß und mit einer alten Hausbewohnerin plauderte. Während Nathan auf den Fahrstuhl wartete, fing er ein paar Brocken ihrer Unterhaltung auf.
    »Guten Abend, Miss

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