Ein Engel im Winter
daran erinnern?«
Er sah seine Augen im Schein des Windlichts glänzen.
»Weil es sehr intensiv war. Sie hat Sie jeden Tag besucht«, fügte er bewegt hinzu.
Nathan hatte sich von Garretts Bericht einlullen lassen und schien in eine weniger erfreuliche Wirklichkeit zurückzukehren.
»Sie wissen genau, dass man ein Leben nicht auf ein paar Kindheitserinnerungen aufbauen kann. Meine Beziehung zu Mallory war zu allen Zeiten kompliziert.«
Goodrich erhob sich.
»Das trifft auf viele Paare zu«, sagte er und schlüpfte in seinen Mantel.
»Eh! Wo wollen Sie denn hin?«
»Ich fahre nach New York zurück.«
»Mitten in der Nacht? Bei diesem Wetter?«
»Es ist noch nicht sehr spät, und vermutlich sind die Straßen jetzt nicht so sehr befahren, wie sie es morgen früh sein werden. Im Übrigen rate ich Ihnen, das Gleiche zu tun, wenn Sie nicht die ganze Woche hier festsitzen wollen.«
Im Nu war er bei der Tür.
»Vergessen Sie nicht, den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen.«
Er wandte sich noch einmal zu Nathan um und sagte:
»Cujo ist in der Garage, gehen Sie da lieber nicht rein.«
Nathan blieb allein. Er starrte auf das langsam verglimmende Kaminfeuer und fragte sich, wie es Goodrich schaffte, sein Lächeln zu bewahren, obwohl er täglich von Leid umgeben war.
Nathan stand immer noch unter Schock, doch er erkannte allmählich, dass auch er sich den Dingen stellen musste. Er hatte sich immer durchgekämpft. Er wusste noch nicht genau, wie er sich verhalten sollte, nur eines war klar: Er würde nicht untätig bleiben.
Denn er begann die Dringlichkeit zu spüren.
Die Dringlichkeit gegenüber allem.
Es gab noch immer keinen Strom. Nathan nahm ein Windlicht und ging auf einem Bein hinkend die Treppe hinauf in das Büro, in dem die medizinischen Akten aufbewahrt wurden.
In diesem Zimmer war es so kalt, dass er eine Gänsehaut bekam.
Nathan stellte das Licht auf den Boden. Er hatte das Gefühl, sich in einer Leichenhalle zu befinden, umgeben von unzähligen Toten und ihren bedrohlichen Schicksalen.
Er griff nach der Kassette und Goodrichs Tagebuch, in dem sein Fall beschrieben wurde, und verstaute beides in seiner Tasche.
Bevor er ging, wühlte er noch in den übrigen Regalen, ohne genau zu wissen, wonach er suchte. Er stellte fest, dass es außer den chronologisch geordneten medizinischen Akten viele Schachteln gab, die bestimmten Kranken gewidmet waren. Auf zwei Schachteln stand:
Emily Goodrich (1947-1976)
Er öffnete die erste Schachtel und klappte den Aktendeckel auf, der einen ganzen Stapel Unterlagen enthielt.
Es war die Krankenakte von Garretts erster Frau. Er setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, um darin zu blättern.
Sie enthielt eine detaillierte Dokumentation über die Hodgkin-Krankheit, eine bösartige Wucherung des Lymphsystems, unter der Emily gelitten hatte.
Die übrigen Unterlagen schilderten den Kampf dieser Frau gegen die Krankheit – von der Infektion 1974 bis zu ihrem Tod zwei Jahre später: die medizinischen Untersuchungen, die Konsultationen in verschiedenen Kliniken, die Chemotherapie …
Als er die zweite Schachtel öffnete, entdeckte er ein dickes Album.
Er stellte die Lampe näher heran, um besser sehen zu können. Es war eine Art intimes Tagebuch mit der runden Schrift von Garretts Frau, das eine Chronik der letzten beiden Jahre ihres Lebens enthielt.
Er war im Begriff, in Emily Goodrichs geheimen Garten einzudringen. Hatte er überhaupt das Recht dazu? Es gibt nichts Schlimmeres, als in die Intimsphäre von Menschen einzudringen, dachte er. In Goodrichs Archiven zu wühlen, war schon schlimm genug, aber im Tagebuch dieser Frau zu lesen, war noch etwas ganz anderes. Also klappte er es wieder zu.
Doch der Wunsch, mehr zu erfahren, nagte an ihm. Es war keine morbide Neugier, aber Emily hatte die letzten Tage ihres Lebens beschrieben und sich also in einer ähnlichen Lage befunden wie er. Vielleicht konnte er etwas von ihr lernen? Schließlich schlug er das Album wieder auf und blätterte darin.
Er entdeckte Fotos, Zeichnungen, Zeitungsartikel und Trockenblumen.
Dieses Tagebuch war keineswegs rührselig, sondern bewies vielmehr künstlerische Sensibilität. Aufmerksam las er ein paar Zeilen, die sich alle um einen einzigen Gedanken rankten: Das Bewusstsein des nahenden Todes regt an, anders zu leben, die Augenblicke, die uns noch bleiben, voll auszukosten, bereit zu sein, sich zu verdammen, um noch ein wenig zu leben.
Unter ein Foto, das sie beim Jogging
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