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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Musso
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zeigt, hatte sie in der Art einer Bildlegende geschrieben:
    »Ich laufe so schnell, dass mich der Tod nie einholt.«
    Zu Beginn ihrer Chemotherapie hatte sie eine Haarsträhne auf eine Seite geklebt.
    Es gab auch Fragen. Eine ganz besondere tauchte auf verschiedenen Seiten immer wieder auf: »Gibt es einen Ort, zu dem wir alle gehen?«
    Das Tagebuch endete mit der Erinnerung an einen Aufenthalt in Südfrankreich. Emily hatte die Hotelrechnung und eine Postkarte mit Kiefernwald, Felsen und Sonne aufbewahrt. Sie stammte aus dem Juni 1976, ein paar Monate vor ihrem Tod.
    Rechts unten konnte man lesen: »Cap d’Antibes.« Daneben hatte sie zwei kleine Umschläge geklebt: der erste enthielt hellen Sand, der zweite getrocknete Pflanzen.
    Er hielt sich den Umschlag unter die Nase und atmete Lavendelgeruch ein, aber vielleicht spielte ihm seine Fantasie nur einen Streich.
    An die letzte Seite war ein Brief geheftet. Nathan erkannte auf den ersten Blick Goodrichs Schrift. Er hatte ihn geschrieben, als wende er sich an seine Frau, doch der Brief datierte von … 1977. Ein Jahr nach ihrem Tod!
    Erklär mir Folgendes, Emily.
    Wie konnten wir einen glücklichen Monat am Cap d’Antibes verbringen, obwohl du wusstest, dass du sterben würdest?
    Wie hast du es geschafft, weiterhin schön und lustig zu sein? Und woher habe ich den Mut genommen, nicht zusammenzubrechen?
    Wir haben sogar fast unbeschwerte Augenblicke verbracht. Wir sind geschwommen, waren angeln und haben Fische gegrillt. Oft spazierten wir den Strand entlang und genossen den kühlen Abend. Wenn du in deinem kurzen Sommerkleid über den Sand gelaufen bist, wollte ich mir vorgaukeln, dass der Tod dich verschonen würde, dass du die wunderbare, heilige Emily werden würdest, über deren Heilung sich die Ärzte auf der ganzen Welt wunderten.
    Eines Tages hatte ich auf der Terrasse die Musik voll aufgedreht: Es waren Goldberg-Variationen von Bach, die wir uns häufig anhörten. Ich beobachtete dich von fern und hätte am liebsten geweint. Stattdessen habe ich dich angelächelt, und du hast dich in der Sonne im Tanz gedreht. Du hast mir zugewinkt, ich solle zu dir kommen, und du wolltest mit mir schwimmen.
    An jenem Tag war dein Mund feucht und salzig. Du hast mich mit Küssen bedeckt und mir den Himmel, das Meer und das Frösteln der Körper, die in der Sonne trocknen, erklärt.
    Es ist jetzt fast ein Jahr her, seit du mich verlassen hast.
    Du fehlst mir so sehr …
    Gestern hatte ich Geburtstag, aber ich habe das Gefühl, nicht älter geworden zu sein.
    Nathan blätterte noch ein paar Seiten weiter in dem Album. Noch einmal entdeckte er einen Text in Goodrichs Schrift.
    Es war ein sehr bitterer Absatz, in dem Emilys Agonie beschrieben wurde.
    Wir haben jetzt Oktober. Es ist das Ende.
    Emily steht nicht mehr auf.
    Vor drei Tagen hat sie nochmals alle Kraft zusammengenommen und zum letzten Mal Klavier gespielt. Eine Sonate von Scarlatti mit wiederholtem Fingerwechsel für die rechte und Arpeggio-Akkorden für die linke Hand.
    Ihr kunstvolles Spiel hat mich wieder einmal verblüfft. Sie hat diese Sonate gelernt, als sie noch klein war.
    Als ich sie zu ihrem Bett trug, sagte sie:
    »Ich habe sie für dich gespielt.«
    Mehrere Tage hintereinander herrschten Stürme und Gewitter. Das Meer hat riesige Baumstämme ans Ufer geschwemmt.
    Emily wird nicht mehr aufstehen.
    Ich habe ihr Bett ins Wohnzimmer gestellt, wo es schön hell ist.
    Sie besteht darauf, nicht ins Krankenhaus zu gehen, und das ist gut so. Täglich kommt ein Arzt vorbei. Ich habe Angst vor meiner eigenen medizinischen Diagnose.
    Sie atmet immer schwerer. Sie hat fast ständig Fieber, fröstelt, sagt, ihr sei immer kalt, obwohl ihr Körper glüht.
    Neben dem Heizofen habe ich Feuer im Kamin angezündet.
    Abgesehen von Emily und dem Arzt habe ich seit einem Monat mit niemandem mehr gesprochen.
    Ich betrachte den Himmel und das Meer. Ich trinke mehr als sonst. Es ist fast erbärmlich. Ich dachte, ich sei anders als die anderen, doch ich lasse mich wie ein Schwächling vom Alkohol einlullen. Ich dachte, es lindere meinen Schmerz und helfe mir, diese Hölle zu vergessen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der Alkohol schärft meine Sinne und erhöht meine Aufmerksamkeit. Durch solches Verhalten bin ich Emily bestimmt keine Hilfe.
    Sie redet nicht mehr mit mir. Sie kann es nicht mehr.
    Sie hat zwei Zähne verloren.
    Es ist grauenhaft.
    Darauf war ich nicht gefasst. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich habe bereits

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