Ein Engel im Winter
schweifen, zu einem klaren, frischen, aber sonnigen Nachmittag auf hoher See vor Massachusetts.
Er sitzt mit Mallory am Bug eines Ausflugsbootes, das an einer riesigen Sandbank zwischen Cape Cod und Cape Ann den Anker geworfen hat.
Er hat sich direkt hinter sie gesetzt, sein Kinn ruht auf ihrer Schulter. Beide schauen auf den ruhigen Horizont des Meeres.
Plötzlich zeigt Mallory auf eine Stelle im Wasser. Eine Gruppe von etwa fünfzehn Walen taucht aus der Tiefe des Ozeans empor, bläst mit großem Getöse in einem prunkvollen Feuerwerk Wasserfontänen mehrere Meter in die Höhe.
Bald erheben sich ihre Köpfe und große Teile ihrer Rücken in der Nähe des Bootes aus dem Wasser. Diese Kolosse von fünfzig Tonnen streifen das Boot und stoßen sanfte Laute aus. Mallory dreht sich zu ihm um, ein Lächeln auf den Lippen, die Augen weit geöffnet. Sie sind sich bewusst, einen außergewöhnlichen Augenblick zu erleben.
Bald tauchen die Wale mit einem letzten Sprung wieder unter. Mit einer unendlichen Grazie heben sie ihre zweigeteilten Schwanzflossen sehr weit aus dem Wasser, bevor sie im Ozean verschwinden, während ihre hohen Pfeiftöne immer schwächer werden.
Dann ist nichts mehr zu sehen, nur einige Seevögel, die sich in den Himmel schwingen, um ihr Territorium wieder in Besitz zu nehmen.
Auf dem Rückweg erzählt ihnen der Besitzer des Bootes, ein alter Fischer aus Provincetown, eine merkwürdige Geschichte.
Fünf Jahre zuvor waren hier zwei kleine Buckelwale gestrandet..
Der größere, ein Männchen, war verletzt und blutete stark aus dem linken Ohr. Der andere schien bei guter Gesundheit. Ebbe und Flut waren an dieser Stelle nicht so stark, und es schien, als hätten die Wale das freie Wasser in jedem Moment erreichen können, wenn sie gewollt hätten. Achtundvierzig Stunden lang hatte die Küstenwache versucht, das gesunde Tier zu retten, es mit Seilen und kleinen Booten in Richtung Wasser zu ziehen. Aber jedes Mal, wenn man es ins Wasser zurückgebracht hatte, stieß das Weibchen klagende Schreie aus, rollte sich unverzüglich ans Ufer zurück und legte sich neben ihren Gefährten wie ein schützender Wall.
Am Morgen des dritten Tages war das Männchen gestorben, und man versuchte ein letztes Mal, das überlebende Weibchen ins Wasser zu bringen. Diesmal warf sie sich nicht sofort wieder auf den Sand, sondern blieb in der Nähe des Ufers, schwamm im Kreis und stieß so laute und traurige Schreie aus, dass die Spaziergänger am Strand anfingen, sich zu fürchten.
Es dauerte lange, doch ihr Trauergesang endete so plötzlich, wie er begonnen hatte, sie wälzte sich langsam zurück auf den Sand und starb wenig später.
»Zwischen diesen Tieren kann eine außerordentlich enge Beziehung bestehen«, schloss der Fischer und zündete sich eine Zigarette an.
»Das ist vor allem dumm«, urteilte Nathan ohne nachzudenken.
»Überhaupt nicht«, erklärte Mallory nach kurzem Schweigen.
»Was meinst du damit?«
Sie beugte sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern:
»Wenn du sterben müsstest, würde ich mich auch neben dich legen.«
Er drehte sich zu ihr um und umarmte sie.
»Ich hoffe doch nicht«, gab er zurück und legte die Hände auf ihren Bauch.
Sie war im sechsten Monat schwanger.
Nathan erhob sich mit einem Ruck.
Wieso sitze ich hier allein auf dem Sofa und lasse die Vergangenheit an mir vorüberziehen, statt bei meiner Frau und meinem Kind zu sein?
Der Radiowecker zeigte zwei Uhr vierzehn, aber dank der Zeitverschiebung war es in Kalifornien erst kurz nach elf Uhr abends.
Er nahm das Telefon ab und drückte auf einen Knopf, um die erste gespeicherte Nummer anzurufen.
Nach mehrmaligem Klingeln hörte er eine müde Stimme:
»Ja?«
»Guten Abend, Mallory. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«
»Warum rufst du mich so spät noch an? Was ist passiert?«
»Nichts Schlimmes.«
»Was willst du also?«, fragte sie schroff.
»Vielleicht ein bisschen weniger Aggressivität in deiner Stimme.«
Sie ignorierte seine Bemerkung und fragte diesmal mit unverhohlenem Überdruss:
»Was willst du, Nathan?«
»Dich darüber informieren, dass ich Bonnie bereits morgen abholen werde.«
»Wie bitte? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«
»Lass mich dir erklären …«
»Da gibt es nichts zu erklären«, explodierte sie.
»Bonnie muss bis zum Ende der Woche in die Schule gehen.«
Er seufzte.
»Sie kann ein paar Tage schwänzen. Das wird nicht so dramatisch sein und …«
Sie ließ ihn nicht
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