Ein Engel im Winter
Fitzgerald, und schöne Feiertage.«
»Schöne Feiertage auch für Sie, Peter. Und grüßen Sie Melissa und die Kinder.«
Melissa und die Kinder?
Nathan wusste nicht einmal, dass Peter Kinder hatte. Er hatte sich nie Zeit genommen, mit ihm darüber zu reden. Und genau das war der Fehler in seinem Leben: Er schenkte den anderen nicht genügend Aufmerksamkeit. Ein Satz, den Mallory so oft gesagt hatte, fiel ihm wieder ein:
»Wenn man sich um andere kümmert, kümmert man sich letztlich um sich selbst.«
Nathan schloss die Tür seines Apartments hinter sich.
Er hatte beinahe zwei Stunden gebraucht, um nach Manhattan zurückzukehren, und war erschöpft. Es war die Hölle gewesen, das Auto auf dem festgefahrenen, teilweise vereisten Schnee auf der Straße zu halten. Ganz abgesehen von seiner Wunde am Fuß und an der Wade, die im Augenblick heftig schmerzte.
Seit einigen Tagen war er besonders empfindlich für körperlichen Schmerz geworden, weil er sich ständig fragte, wie sein Körper auf das Herannahen des Todes reagieren würde. Würde das Ende sanft oder eher gewaltsam sein? Na ja … es war wohl besser, sich keine Illusionen zu machen, wenn man bedachte, auf welche Weise Candice und Kevin umgekommen waren.
Er humpelte zum Apothekenschrank und schluckte zwei Aspirin gegen die Schmerzen, bevor er sich in einen Sessel fallen ließ. Links neben ihm, auf einem Regal, verlor ein sündhaft teurer Bonsai seine Blätter.
Er hatte nie begriffen, wie man diesen kleinen Baum pflegte, den Mallory ihm geschenkt hatte. Er konnte ihn noch so regelmäßig beschneiden und mit Hilfe eines Zerstäubers befeuchten, es half nichts: Jeden Tag wurde der Baum gelber und verlor unerbittlich seine Blätter.
Ehrlich gesagt fehlten ihm die geschickten Hände seiner Frau auch für all die kleinen Dinge, die das Leben angenehmer machen.
Er schloss die Augen.
Alles war so schnell gegangen. Er hatte den Eindruck, sein Diplom zum Studienabschluss erst vorgestern bekommen zu haben und gestern zum ersten Mal Vater geworden zu sein. Und heute schon sollte er sich darauf vorbereiten, diese Welt zu verlassen? Nein, das war nicht möglich.
Ein anderer Gedanke quälte ihn. Er stellte sich Vince Tyler vor, der Mallory küsste, der ihr übers Haar strich und ihr langsam die Kleider abstreifte, bevor er sie liebte.
Oh Gott, wie geschmacklos! Vince war doch ein richtiger Trottel, er besaß weder Feingefühl noch kritischen Verstand. Mallory hätte wahrlich Besseres verdient.
Er öffnete mühsam ein Auge und erblickte ein fast weißes Bild, das nur in seiner Mitte von einem dunklen, rostfarbenen Fleck beschmutzt war – eines der Bilder seiner Frau, das er sehr mochte, ohne es wirklich zu verstehen.
Er griff nach der Fernbedienung und zappte sich durch die Sender: erneuter Fall des Nasdaq – ein Videoclip von Ozzy Osbourne – Hillary Clinton bei David Letterman – das entstellte Gesicht von Tony Soprano im Bademantel – eine Dokumentation über Saddam – die Predigt eines evangelischen Priesters – und zu guter Letzt sagte Lauren Bacall in To have and have not zu Bogart: »Pfeif, wenn du mich brauchst.«
Er blieb eine Weile beim letzten Sender hängen, bis er merkte, dass sein Anrufbeantworter blinkte. Dann erhob er sich schwerfällig und drückte auf den Wiedergabeknopf des Gerätes. Unmittelbar darauf hallte die fröhliche Stimme von Bonnie durch das ganze Apartment.
»Hallo Pa, ich bin’s. Alles okay?
Weißt du, wir haben heute in der Schule über Wale gesprochen. Und da wollte ich dich fragen: Können wir nach Stellwegon Bank fahren und im nächsten Frühjahr die Walwanderung anschauen? Mama hat mir erzählt, dass du mit ihr vor langer Zeit mal da warst und dass es super war. Ich möchte auch gern da hin. Vergiss nicht, dass ich später Tierärztin werden will und dass mir das vielleicht auch nützen kann.
Okay, bis bald! Gerade kommen die Simpsons im Fernsehen. Küsschen.«
Nathan dachte an diesen Ausflug zurück. Vom Beginn des Frühjahrs bis Mitte Oktober schwimmen die Wale aus der Karibik nach Grönland und kommen auf ihrem Weg durch den Golf von Maine. Dieses Schauspiel ist wirklich eine Reise wert. Selbstverständlich musste Bonnie das gesehen haben.
Aber vielleicht wird er sie nicht mehr dorthin begleiten: Bis April ist es noch lange hin, und irgendwo im Universum hatte irgendjemand beschlossen, dass es im Leben von Nathan Del Amico kein »nächstes Frühjahr« geben sollte.
Er ließ seine Gedanken zum Mai 1994
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