Ein Engel im Winter
einen Holzscheit in den Kamin und schürte die Glut, die beinahe erloschen war. Im Nebenzimmer fand er eine Häkeldecke, die er auseinander faltete und dann über Bonnies Beine legte.
Sie hatten einen ruhigen Nachmittag in dieser wunderbaren Gegend verbracht. Einen ruhigen Nachmittag – ganz für sich allein. Nach dem Essen war Lisa Wexler ausgegangen, um Weihnachtsgeschenke für eine ihrer Wohltätigkeitstombolas zu sammeln, während Jeffrey sich den Jeep seines Schwiegersohns geliehen hatte, um nach Pitsfield zu fahren und sich eine neue Angelausrüstung zu kaufen.
Nathan hatte also nichts anderes zu tun, als bei seiner Tochter zu bleiben. Kaum hatte Bonnie aufgegessen, stürzte sie in den Pferdestall, um ihr Pony zu begrüßen, einen schönen Connemara, den sie Spirit getauft hatte. Nathan hatte seiner Tochter geholfen, ihn zum Reiten fertig zu machen und dann für sich selbst eines von Wexlers Pferden gesattelt. Sie waren den Rest des Nachmittags über die ausgedehnten, bewaldeten Hügel in der Umgebung der Ranch geritten. In dieser perfekten Postkarten-Landschaft hatte er nicht ein einziges Mal an den Tod gedacht. Er hatte sich vom rhythmischen Gang der Pferde und den vertrauten Geräuschen der Wasserfälle und Flüsse forttragen lassen.
Für einige Stunden gab es nichts anderes als Bonnies Lachen, die Reinheit der Luft und diesen feinen Schnee, der alles zudeckte und der Landschaft eine neue Jungfräulichkeit verlieh.
Er erinnerte sich gerade an diese wunderbaren Augenblicke, als die große Tür des Wohnzimmers aufging. Lisa Wexler betrat den Raum.
»Guten Abend, Nathan«, sagte sie, als sie ins Zimmer trat.
Sie war noch immer eine schöne Frau, hoch gewachsen und stets elegant gekleidet, bewahrte sie in jeder Lage diese aristokratische Haltung, die man sich erst nach mehreren Generationen aneignete.
»Guten Abend, Lisa, ich habe Sie nicht kommen hören.«
»Der Motor des Wagens ist sehr leise.«
Bei dem Preis, den Sie für den Bentley bezahlt haben .
»Haben Sie einen schönen Ausritt gemacht?«, fragte sie mit liebevollem Blick auf Bonnie.
»Ja, wunderbar.«
Da er Lust verspürte, sie ein wenig zu ärgern, fügte er hinzu:
»Und Sie, wie geht’s Ihren Armen?«
Sie warf ihm einen kurzen, zweifelnden Blick zu, antwortete aber nicht. Provokationen und Scherze waren eine Art der Kommunikation, die Lisa Wexler nicht zu schätzen wusste.
»Wo ist Jeffrey?«, fragte sie und dimmte das Licht, um ihre Enkelin nicht aufzuwecken.
»Er dürfte bald wieder da sein, er ist nach Pitsfield gefahren, um sich neue Angelgeräte zu kaufen.«
Ein Schatten huschte über Lisas schönes Gesicht. »Wollen Sie damit sagen, er hat sich Ihr Auto geliehen?«
»Ja. Ist das ein Problem?«
»Nein . nein«, stotterte sie und versuchte ihre Besorgnis zu verbergen.
Sie lief ein paarmal im Wohnzimmer auf und ab, setzte sich dann auf die Couch, schlug die Beine übereinander und griff nach einem Buch, das auf einem kleinen Tisch lag. Sie besaß diese natürliche Autorität, die auf Anhieb eine Distanz schuf und ihrem Gegenüber unmissverständlich klar machte, dass sie das Gespräch für beendet hielt. Nach allem, was passiert war, kam das Nathan sehr gelegen. Jeffreys Enthüllungen über das gestohlene Armband lasteten schwer auf seiner Seele, und er wusste, dass nicht viel gefehlt hätte und er hätte seine Wut an Lisa ausgelassen.
Um nicht müßig herumzusitzen, blätterte er in einem der luxuriös gebundenen Bände, die aufgereiht hinter dem Glas im Bücherschrank standen. Er hätte gern etwas getrunken, aber es gab im ganzen Haus keinen Tropfen Alkohol.
Von Zeit zu Zeit warf er seiner Schwiegermutter einen Blick zu. Lisa Wexler war in großer Sorge, das war nicht zu übersehen. In weniger als fünf Minuten hatte sie mehrmals auf die Uhr geschaut.
Sie sorgt sich um Jeffrey.
Nathan musste sich eingestehen, dass ihn diese unnahbare und würdevolle Frau, dieses reine Produkt der Bostoner Aristokratie, immer fasziniert hatte. Aber sie hatte ihn vor allem deshalb fasziniert, weil Mallory das krasse Gegenteil ihrer kalten, strengen Mutter verkörperte. Nathan hatte immer gewusst, dass seine Frau ihren Vater verehrte. Aber lange Zeit hatte er die Art der Bindung zwischen Vater und Tochter nicht begriffen. Doch nach Jeffreys Beichte hatte er ihre Beziehung verstanden. Was Mallory an ihrem Vater liebte, war diese Verwundbarkeit, die Nathan niemals vermutet hätte. Mallory betrachtete ihren Vater als eine Art
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