Ein Engel im Winter
»Waffenbruder«, weil sie beide einen endlosen Kampf führten. Jeffrey gegen seine Alkoholabhängigkeit, Mallory gegen ihre chronischen Depressionen. Neben den beiden erschien Lisa als starker und ruhender Pol der Familie.
Dennoch war sie im Moment höchst beunruhigt – nur weil ihr Mann nach Pitsfield gefahren war. Nathan zerbrach sich vergeblich den Kopf, er verstand es nicht. Jeffrey gehörte nicht zu den Männern, die ihre Frauen um Erlaubnis bitten, bevor sie ein paar tausend Dollar für eine schicke neue Angelausrüstung ausgeben.
Plötzlich, wie von einem sechsten Sinn getrieben, stand Lisa mit einem Ruck auf und trat mit Nathan im Schlepptau auf die Freitreppe. Dort machte sie alle Lichter der großen Einfahrt an und drückte auf die automatische Türöffnung.
Bald hörte man das laute Röhren des Jeeps. Sobald das Auto in die Allee einbog, merkte Nathan, dass Jeffrey nur ruckweise fuhr. Der Jeep machte solche Schlenker, dass er mal über den Rasen fuhr, dann das automatische Bewässerungssystem zermalmte und ein kleines kunstvoll angelegtes Blumenbeet niederwalzte. Diese Blumen hatten keine Chance mehr, im nächsten Frühjahr zu blühen. Als der Jeep ins Licht kam, erkannte Nathan, dass sein Auto an mehreren Stellen angeschrammt war und dass eine der vorderen Radkappen fehlte. Er erkannte sofort, dass Jeffrey einen Unfall gehabt haben musste. Der Motor röchelte, und der Wagen kam schließlich auf dem Rasenstreifen zu stehen. »Ich habe es gewusst!«, entfuhr es Lisa, während sie auf ihren Mann zustürzte.
Jeffrey kletterte mit allergrößter Mühe aus dem Auto und stieß seine Frau rücksichtslos von sich. Sein Gang beseitigte jeden Zweifel: Er war total betrunken.
»Ich muss pinkeln!«, rief er lautstark.
Nathan ging auf seinen Schwiegervater zu, um Lisa zu helfen. Jeffrey stank aus allen Poren nach Alkohol.
»Ich helfe Ihnen, Jeffrey, kommen Sie …«
»Lass mich in Ruhe! Ich brauch deine Hilfe nicht . Alles was ich will, ist pinkeln …«
Wexler knöpfte sich die Hose auf und pinkelte auf den Rasen neben der Freitreppe.
Nathan blieb verblüfft stehen, schwankte zwischen Scham und Sorge um seinen Schwiegervater. »Das ist nicht das erste Mal, Nathan …«, murmelte Lisa und griff nach seinem Arm.
Nathan war gerührt ob dieser kleinen vertrauten Geste, die so ungewöhnlich für sie war und ihr Bedürfnis nach Trost verriet.
»Was meinen Sie damit?«
»Jeffrey ist vor ein paar Monaten schon einmal erwischt worden, als er betrunken Auto fuhr. Trotz unserer guten Beziehungen hat man ihm eine sehr hohe Geldstrafe aufgebrummt, zudem wurde ihm für ein Jahr der Führerschein entzogen. Alle Fahrzeuge, die auf seinen Namen angemeldet sind, wurden beschlagnahmt.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er ohne Führerschein gefahren ist?«
Lisa nickte zustimmend.
»Hören Sie, das ist wirklich übel«, fuhr Nathan fort. »Wir müssen unbedingt sicherstellen, dass er keine Schäden verursacht hat.«
Erneut wandte er sich an Jeffrey. Die Augen des alten Mannes funkelten wie nie zuvor.
»Sie haben einen Unfall gehabt, nicht wahr, Jeffrey?«
»Nein!«, brüllte er seinen Schwiegersohn an.
»Ich glaube aber doch.«
»Nein!«, wiederholte Jeffrey, »ich bin ihm ausgewichen!«
»Wem sind Sie ausgewichen, Jeffrey?«
Nathan hielt seinen Schwiegervater am Mantelrevers fest.
»Wem sind Sie ausgewichen, Jeffrey?«, wiederholte er und schüttelte ihn.
»Diesem Fahrrad … ich bin … ihm ausgewichen.« Nathan hatte eine böse Ahnung. Jeffrey wollte sich wehren, rutschte aber im Schnee aus und fiel hin. Nathan hob ihn hoch, stützte ihn und geleitete ihn ins Haus. Jeffrey zeigte sich nun fügsamer und ließ sich von seiner Frau auf sein Zimmer bringen. Tränen der Scham liefen über Lisas Wangen.
Zurück im Wohnzimmer griff Nathan nach seinem Mantel und verließ eilig das Haus. Lisa erwischte ihn noch auf der Freitreppe.
»Wo wollen Sie hin?«
»Kümmern Sie sich um ihn, Lisa. Ich werde das Auto nehmen und sehen, ob ich etwas herausbekommen kann.«
»Sprechen Sie mit niemandem darüber, Nathan. Ich bitte Sie darum, sagen Sie niemandem, dass Sie ihn in diesem Zustand gesehen haben.«
»Ich denke eher, dass Sie die Polizei benachrichtigen und einen Arzt rufen sollten. Wir wissen ja nicht, was geschehen ist.«
»Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass ich irgendjemanden benachrichtige!«, erklärte Lisa mit großem Nachdruck, bevor sie die Tür schloss. Von einem Moment auf den anderen hatte sie ihre
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