Ein Engel im Winter
Entschlossenheit und ihren Beschützerinstinkt wiedergefunden.
Nathan schwang sich hinter das Lenkrad des Jeeps und wendete. Er wollte schon losfahren, als Bonnie angerannt kam.
»Ich komme mit, Papa!«, rief sie und riss die Beifahrertür auf.
»Nein, Liebling, geh wieder ins Haus! Hilf deiner Großmutter. Lass sie nicht allein.«
»Ich will aber lieber mitkommen.«
Sie kletterte ins Auto und schloss die Tür.
»Was ist passiert, Papa?«, fragte sie und rieb sich das Gesicht. Sie war noch ganz schlaftrunken.
Sie hat ihren Großvater in diesem Zustand nicht gesehen. Gott sei Dank.
»Wir reden später darüber, Baby, jetzt schnall erst mal deinen Gurt an.« Nathan legte den Gang ein und raste den Hang hinunter.
Er fuhr in Richtung Stadtzentrum.
»Hör mir gut zu, Liebling, nimm mein Handy aus dem Handschuhfach, wähle die 911 und lass dich mit dem Büro des Sheriffs verbinden.«
Glücklich an einem solchen Abenteuer teilzuhaben, erfüllte Bonnie ihre Aufgabe mit Eifer und Beflissenheit. Ganz stolz hielt sie ihrem Vater nach dem zweiten Klingeln den Hörer hin.
»Hier ist das Büro des Sheriffs in Stockbridge, nennen Sie bitte Ihren Namen«, verlangte der Officer am anderen Ende der Leitung.
»Ich heiße Nathan Del Amico, aber ich wohne zurzeit bei meinen Schwiegereltern Jeffrey und Lisa Wexler. Ich rufe an, weil ich wissen möchte, ob man Ihnen hier in der Gegend einen Autounfall gemeldet hat.«
»Man hat uns tatsächlich einen Unfall an der Kreuzung Lenox Road und 183. Straße gemeldet. Sind Sie Zeuge gewesen, Mister?«
»Ich . ich weiß noch nicht, ich danke Ihnen, auf Wiederhören.«
Er legte den Hörer auf, ohne dem Polizisten Gelegenheit zu geben, etwas hinzuzufügen.
In weniger als fünf Minuten war er am Unfallort – eine kleine Kreuzung am Ende der Stadt. Drei Polizeiautos mit blinkendem Blaulicht waren bereits vor Ort. Ein Officer hielt den Verkehr an, um Platz für einen Rettungswagen zu machen, der mit heulenden Sirenen aus der Gegenrichtung angebraust kam. Als Nathan sich in der Dunkelheit dieser Symphonie aus Licht- und Warnsignalen näherte, begriff er, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. In dem ganzen Durcheinander konnte er das Ausmaß der Schäden nicht sofort erkennen, da weder ein Unfallauto noch ein Opfer zu sehen waren.
»Was ist passiert, Papa? Was ist passiert?«, fragte Bonnie immer aufgeregter.
»Ich weiß es nicht, Liebling.«
Er wich langsam aus, als ein Polizist ihm bedeutete, er solle sich auf den Seitenstreifen stellen. Der Anwalt folgte der Anweisung und beachtete die Vorschriften. Er blieb im Wagen sitzen, legte die Hände aufs Lenkrad und wartete, dass der Officer sich an ihn wandte. Von seinem Standort aus konnte er die Rettungsmannschaft erkennen, die sich um einen kleinen leblosen Körper versammelte, den sie gerade aus dem Graben gehoben hatte. Es war ein Kind, vielleicht im Alter seiner Tochter, mit einem dieser fluoreszierenden Regenmäntel bekleidet, die man trägt, um in der Nacht von den Autofahrern wahrgenommen zu werden.
Mein Gott, der arme Junge! Jeffrey steckt verdammt tief in der Patsche.
»Ist er tot?«, fragte Bonnie, die sich von ihrem Sitz erhoben hatte.
»Ich hoffe nicht, Liebling, er ist vielleicht nur bewusstlos. Setz dich wieder, schau nicht hin.«
Er nahm sie in die Arme. Sie bettete ihren kleinen Kopf an seine Schulter, und er wiegte sie leicht, um sie zu beruhigen.
Verdammt, warum ist Jeffrey abgehauen? Er ist Anwalt. Er weiß ganz genau, dass Fahrerflucht nach einem Unfall mit einem Verletzten als kriminelle Handlung geahndet wird.
Nathan drehte den Kopf zur Seite. Er erkannte den Polizisten, der geradewegs auf ihn zukam. Schon hatten sich die Türen des Rettungswagens geschlossen, der das Kind in die Notaufnahme eines Krankenhauses . oder ins Leichenschauhaus bringen würde.
Oh Herr, mach, dass dieser Junge nicht tot ist.
Erneut schaute Nathan in Richtung des Grabens. Das Fahrrad war durch den Zusammenprall völlig zerquetscht. Einer der Polizisten kletterte gerade aus dem Graben. In einer Hand hielt er einen zerfetzten Rucksack, an dem ein Sturzhelm aus Graphit hing, den das Kind nicht aufgesetzt hatte. Nathan schloss die Augen. In der andern Hand hielt der Mann die Radkappe seines Jeeps.
Wenn der Junge tot ist, wird Jeffrey wegen Totschlags angeklagt.
Nathan spürte, wie der Anwalt in ihm die Oberhand gewann.
Fahren ohne Führerschein, wiederholtes Fahren unter Alkoholeinfluss, Fahrerflucht, unterlassene
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