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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Musso
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Selbstverständlich hatte ich ihr nie etwas versprochen – zu jener Zeit ließ man sich in unseren Kreisen nicht scheiden, um seine Sekretärin zu heiraten. Aber sie setzte mich emotional unter Druck und hoffte, ich würde meine Frau verlassen. Ich erinnere mich, dass ich nach dem Besuch bei ihr in eine Hotelbar gegangen war, um einen Whisky zu trinken. Aber es blieb nicht bei einem, ich habe mindestens vier oder fünf getrunken. Ich nehme an, du kennst mein Alkoholproblem …«
    Nathan verstand nicht gleich.
    »Wie bitte?«
    »Ich habe damals sehr viel getrunken«, erklärte Jeffrey, »ich bin alkoholabhängig.«
    Nathan war auf alles gefasst, aber nicht auf ein solches Geständnis.
    »Aber seit wann?«
    »Anfang der achtziger Jahre gelang es mir, mich davon zu lösen, aber ich hatte mehrere Rückfälle. Ich habe alles versucht: Entziehungskuren, Gespräche . aber es ist nicht einfach, zu den Versammlungen zu gehen und zuzugeben, dass man Alkoholiker ist und mit völlig unbekannten Menschen derart intime Dinge zu diskutieren.«
    »Das … habe ich nicht gewusst«, stotterte Nathan.
    Jetzt war Jeffrey derjenige, der verwundert war.
    »Ich war davon überzeugt, dass Mallory es dir erzählt hat.«
    Zum ersten Mal entdeckte Nathan eine Gefühlsregung in den Augen seines Schwiegervaters. Trotz seiner Demütigung war Jeffrey stolz auf seine Tochter, die sein Geheimnis so lange Zeit bewahrt hatte, sogar vor dem Mann, den sie liebte. Während er Wexlers Beichte hörte, glaubte Nathan die Antwort auf viele Fragen gefunden zu haben, die er sich früher wegen Mallorys Weltschmerz gestellt hatte.
    Jeffrey setzte sein Geständnis fort:
    »Als ich in Nantucket angelangt war, fand ich das Schmuckstück nicht mehr. Sehr viel später hat meine Sekretärin mir gestanden, es mir entwendet zu haben, um Zwietracht zwischen meiner Frau und mir zu säen. Aber für den Moment wusste ich überhaupt nicht, wo es geblieben war. Ich war in Panik, und als meine Frau mich am nächsten Morgen fragte, was mit dem Armband sei, fiel mir nichts Besseres ein, als zu behaupten, ich hätte es in ihren Schmuckkoffer zurückgelegt. Was dann dazu führte, dass wir deine Mutter beschuldigt haben. Ich vermute, meine Frau hat nur so getan, als glaube sie die Geschichte, aber das hat uns immerhin ermöglicht, den Schein zu wahren.«
    Er machte eine sehr lange Pause, bevor er mit tonloser Stimme hinzufügte:
    »Es tut mir Leid, Nathan, ich war damals feige.«
    Das kannst du wohl sagen.
    Nathan verschlug es die Sprache. Er war am Boden zerstört und gleichzeitig getröstet durch dieses Geständnis. Nein, seine Mutter war keine Diebin, sie war das Opfer einer großen Ungerechtigkeit gewesen. Doch Jeffrey, der Mann, den er für ehrenhaft und unfehlbar gehalten hatte, war ein Lügner und Alkoholiker, der seine Frau mit einer Geliebten betrog. Er war auch nur ein Mann wie jeder andere. Wie er.
    Er blickte seinen Schwiegervater an und spürte merkwürdigerweise, dass der Groll ihm gegenüber verschwunden war. Er wollte ihn nicht verurteilen. Das war vorbei. Er bemerkte, dass Jeffreys Gesichtszüge sich entspannt hatten, als habe er selbst lange Zeit darauf gewartet, dieses Geständnis machen zu können. Im Grunde hatten die beiden Männer – jeder für sich – mit einem schwerwiegenden Geheimnis gelebt, das ihnen viele Augenblicke ihres Lebens vergällt hatte.
    Jeffrey brach als Erster das Schweigen:
    »Ich weiß, das ist keine Entschuldigung«, begann er, »aber ich habe insgeheim dafür gesorgt, dass deine Mutter wieder Arbeit fand, und ich habe in jenem Jahr einen Teil deines Schulgeldes bezahlt.«
    »Sie haben Recht«, sagte Nathan mit geröteten Augen, »das entschuldigt Sie nicht.«
    Jeffrey wandte sich seinem Tresor zu, öffnete ihn und nahm etwas heraus, das er mit zitternder Hand Nathan hinhielt.
    Es war ein Armband mit vier Perlenreihen und einem silbernen, mit kleinen Brillanten eingefassten Verschluss.

Kapitel 23
    Wenn man nicht zu allem bereit ist, ist man zu gar nichts bereit.
    Paul Auster

    »A beautiful sight, we’re happy tonight.
    Walking in a winter wonderland …«
    Nathan ließ die letzten Akkorde des berühmten Weihnachtsliedes sanft verklingen. Er schloss den Klavierdeckel und betrachtete gerührt seine Tochter, die auf dem Ledersofa im Wohnzimmer eingeschlafen war. Draußen war die Nacht hereingebrochen. Der Horizont, der eben noch in roten, rosa- und orangefarbenen Flammen gestanden hatte, zeichnete sich nun dunkel ab. Nathan legte

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