Ein Erzfeind zum Verlieben
ein lahmendes Pferd zu stützen.
»Wenn du gern etwas Eleganteres hättest, könnte ich in Benton sicher etwas für dich finden.«
»Dieser genügt vollkommen«, meinte sie, während sie immer noch den Stock betrachtete. »Vielen Dank.«
»War mir ein Vergnügen.« Whit nahm auf einem Stuhl neben dem Bett Platz. »Mirabelle?«
»Hmm?«
»Wusstest du, dass Evie keinen Stock besitzt?«
»Ja.« Sie sah auf und bemerkte, wie er nachdenklich die Stirn runzelte. »Ich schließe aus deiner Frage, dass du es nicht wusstest.«
»Nein.« Er zupfte müßig an der Armlehne des Stuhls herum. »Ich bin zu ihr gegangen, weil ich dachte, ich könnte mir einen für dich borgen, und sie hat mir mitgeteilt, dass sie keinen benötigt.«
»Evies Bein ist stark, Whit, und es macht ihr kaum zu schaffen, nur bei großer Kälte.«
»Mir war gar nicht bewusst, dass es ihr überhaupt zu schaffen macht«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. »Warum hat sie das vor mir verheimlicht?«
»Das hat sie gar nicht«, entgegnete Mirabelle sofort, die sich angesichts der leichten Gekränktheit in seinem Blick unbehaglich fühlte. »Jedenfalls ganz gewiss nicht mit Absicht. Sie spricht nur nicht darüber. Es gehört einfach zu ihr – so wie deine blauen Augen zu dir gehören oder mein farbloses Haar zu mir. Und da sie nichts tun kann, als an kalten Tagen ein heißes Bad zu nehmen …«
»Es gibt Ärzte, die auf solche Dinge spezialisiert sind.«
»Du bürdest dir zu viel auf, Whit.«
Die Bemerkung ließ ihn sichtlich zusammenzucken. »Ganz gewiss nicht. Evie ist eine unverheiratete Frau, die sich in meiner Obhut befindet. Ich bin für ihr Wohlergehen und ihren Schutz verantwortlich …«
»Wenn Sie dich so sprechen hörte, würde sie sich ganz schnell einen Stock kaufen«, tadelte Mirabelle. »Und wenn auch nur, um dir damit eins über den Schädel zu ziehen.«
»Ich habe das Recht …« Er brach ab und seufzte. »Das würde sie tatsächlich tun, nicht wahr?«
»Mit beträchtlicher Inbrunst, und ohne jedes Mitleid.«
»Sie ist ein blutrünstiges Frauenzimmer. Und du kannst deiner Herrin ausrichten, dass ich das gesagt habe«, fügte er lauter in Lizzys Richtung hinzu.
»Sehr wohl, Mylord.«
»Ich hätte es ihr ohnehin gesagt«, ließ Mirabelle ihn wissen. Dann fragte sie aus heiterem Himmel: »Warum hast du mich den Hügel hinaufgetragen?«
Falls Whit die unvermittelte Frage überraschte – und sie konnte sich niemanden vorstellen, der von einer so unvermittelten Frage nicht überrascht gewesen wäre –, so war das nichts im Vergleich zu ihrem eigenen Schock. Wo um Himmels willen war das nur hergekommen? Hatte sie sich den Kopf angestoßen?
Sie musste sich den Kopf angestoßen haben.
So ungemein heftig, dass der Aufprall – zusammen mit all ihrem gesunden Menschenverstand – jede Erinnerung daran ausgelöscht hatte, dass … dass sie sich ihn überhaupt angestoßen hatte. Das war die einzige Erklärung, auch wenn sie im Moment anscheinend keinen Sinn ergab.
»Das habe ich dir doch gesagt«, antwortete Whit und legte besorgt den Kopf schief. »Es war für ein Pferd zu steil und dornig.«
»Ja, aber …« Ihre Stimme wurde leiser, und sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen.
»Ich habe dich ermüdet«, hörte sie Whit murmeln.
»Nein, ich bin nicht müde.« Oh doch, und wie. Plötzlich war sie sehr, sehr müde.
»Dein Kopf kippt herunter.«
»Tut er nicht«, widersprach sie und merkte trotz ihrer Müdigkeit, wie kindisch es klang. Sie versuchte, den Nebel zu vertreiben. »Mrs Hanson hat mir etwas Verdächtiges in den Tee getan.«
Whit nahm die Tasse und roch daran. »Süß«, bemerkte er. »Laudanum, möchte ich wetten.«
»Laudanum?« Mit einem Ruck war sie wach – verhältnismäßig wach jedenfalls. »Sie hat …«
»Nur einen Tropfen.«
»Aber ich möchte kein …«
»Es ist nicht mehr zu ändern.« Er beugte sich vor und deckte sie bis zu den Schultern zu. »Schlaf ein wenig, Kobold.«
»Später«, murmelte sie.
»Na gut, später.«
Undeutlich nahm sie eine Bewegung im Raum wahr, gedämpfte Stimmen und ein Knarren, als die Tür geöffnet wurde.
»Mirabelle?«
»Hmm-hmm?«
»Dein Haar ist nicht farblos.«
»Ist gu–« Sie riss die Augen wieder auf. »Was hast du gesagt?«
»Es hat dieselbe Farbe wie der Kastanienbaum, den wir heute gesehen haben. Ich finde es recht hübsch.«
Bevor sie auch nur annähernd auf die Bemerkung reagieren konnte – also wirklich, wie reagierte man, wenn das eigene Haar
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