Ein Erzfeind zum Verlieben
aus ihr geworden ist?«
»Sobald ich alt genug war, habe ich sie gesucht. Sie hat eine Stellung bei einer netten Familie in Schottland angenommen und ist dann in den Ruhestand getreten, als die Kinder erwachsen wurden. Ich habe daran gedacht, ihr zu schreiben, aber …«
»Aber was?«, hakte er nach.
»Nun, es ist fast zwanzig Jahre her, und wer weiß, wie viele Kinder sie vor mir großgezogen hat. Wahrscheinlich würde sie sich gar nicht mehr an mich erinnern.«
»Das bezweifle ich. Eine Frau wird wohl kaum ein Kind vergessen, das sie so sehr mochte, dass sie ihm Gutenachtgeschichten erzählt hat.«
»Vielleicht.« Sie schloss kurz die Augen. Nur für einen Moment, sagte sie sich. »Ich frage mich, ob sie jemals …«
»Mirabelle?«
»Ja.«
»Schlaf jetzt.«
Mühsam öffnete sie die Augen. »Willst du nicht wieder hineingehen?«
»Später.« Er strich ihr mit sanften Bewegungen übers Haar, als ihre Lider sich flatternd schlossen. »Später.«
Während Mirabelle schlief und Whit dasaß und sie in ihrem Schlaf betrachtete, taumelte ein sehr betrunkener Herr durch den Flur und klopfte an eine Tür. Nachdem sekundenlang keine Antwort gekommen war, klopfte er wieder, dann noch einmal, und drehte den Knauf, um einen Blick in das Zimmer zu werfen. Als er feststellte, dass es die Tür zu einem Besenschrank war, kicherte er und stolperte weiter.
Er brauchte zwei weitere Anläufe, um die Türen zwischen seinem Zimmer und seinem Bestimmungsort zu zählen, doch schließlich gelang es ihm, an die richtige Tür zu klopfen.
Diesmal machte er sich nicht die Mühe oder dachte vielleicht einfach nicht daran, auf eine Antwort zu warten. Er torkelte in den Raum hinein.
»Was zum Teufel tun Sie hier?«, blaffte eine betrunkene Stimme – mit schwerer Zunge, aber er war nicht imstande, das zu registrieren.
Es dauerte ein wenig, bis er die Gestalt auf dem Bett erkannte, und noch ein wenig länger, bis seine widerspenstigen Füße den Weg zu besagtem Bett fanden.
»Bin zu einer Entscheidung gekommen. Hier.« Er wühlte in seinen Taschen, die gerade ungeheuer tief zu sein schienen, bis er schließlich ein gefaltetes Stück Papier fand und triumphierend hochhielt: »Ha!«
Der zweite Mann reckte den Hals und kniff die Augen zusammen, um es anzusehen. »Wirklich?«
»Ja.« Er versuchte zu nicken, aber das war gar nicht gut für seine Augen. Er klammerte sich am Bettpfosten fest, um nicht umzufallen, und hielt dem liegenden Mann das Papier hin. »Brauche nur Ihre Unterschrift ganz unten.«
»Sind Sie sicher? Sie machen auch keinen Rückzieher, nur weil es im Suff war?«
»Beleidigung«, schnaufte er. »Hab mich entschieden. Will sie.«
»Gut, holen Sie mir eine Feder.« Der zweite Mann riss ihm das Stück Papier aus der Hand. »Sie können sie haben.«
Erst viel später verließ Whit Mirabelle und kletterte die Leiter hinab. Er warf das Seil wieder nach oben auf den Heuboden und ging dann zu Christian am anderen Ende des Stalls.
»Sie sorgen dafür, dass sie wieder im Haus ist, bevor die anderen aufwachen?«
»Hab ich schon immer gemacht«, erwiderte Christian, während er sich die Stiefel anzog. »Ist beinahe Morgen, aber die stehen erst lang nach Mittag auf. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Keine Sorgen, dachte Whit und hätte beinahe gelacht. »Sie sind ihr ein guter Freund gewesen.«
Christian warf ihm einen harten Blick zu. »Aye, nun, sie hat einen gebraucht, oder?«
20
Wenn Männer acht Stunden des Tages im Übermaß essen und trinken, besteht der einzige Ausgleich in ihrer Neigung, die übrigen sechzehn Stunden im Bett zu verbringen.
Als Mirabelle das Haus kurz vor Mittag wieder betrat, war es still, und es war immer noch still, nachdem sie sich gewaschen und angekleidet hatte und die Treppen hinuntergeschlüpft war, um sich in der Küche ein kleines Frühstück zu machen.
Sie fand Brot, das noch nicht ganz altbacken war, und ein kleines Stück Käse mit nur wenigen schlechten Stellen. Bei dem Gedanken an Eier und Räucherfisch lief ihr das Wasser im Mund zusammen, aber das war für die Gäste bestimmt. Sie wünschte, es wäre heiße Schokolade da, machte sich eine Kanne schwachen Tee und ließ sich an einem abgewetzten Tisch zu ihrem dürftigen Mahl nieder.
Whit stieß keine zehn Minuten später zu ihr. Ein breiter Sonnenstrahl fiel durch die schmale Fensterreihe und tauchte den Tisch und sie in einen sanften Schein. So wie das Licht auf ihr weiches braunes Haar fiel, fühlte es sich gewiss warm an. Ihr
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