Ein Erzfeind zum Verlieben
ihre Hand und drückte sie sanft. »Bitte. Sind wir in der letzten Woche nicht weit genug gekommen, dass du mit mir sprichst?«
Sie ballte die Hand unter seiner zur Faust, nicht vor Zorn, sondern vor ängstlicher Erregung. Sie wusste, was er fragen wollte. Lieber hätte sie nicht darüber gesprochen und so getan, als säßen sie aus einem ganz anderen Grund auf irgendeinem anderen Heuboden. In ihren Augen war das nicht töricht, sondern vollkommen verständlich … und unrealistisch.
Auch wenn sie sich noch so sehr wünschte, alles wäre anders – und das tat sie wahrhaftig –, waren Vermeidung und Verleugnung keine Möglichkeit mehr. Lieber beantwortete sie seine Frage – oder seine vielen Fragen, wie sich vermutlich herausstellen würde –, als dass er seine eigenen Schlüsse zog. Und lieber hatte sie die Chance, diese Antworten auszuschmücken, wo es nötig war.
Sie ließ seine Hand los, zog die Knie an und schlang die Arme darum. »Dann frag.«
Er schwieg einen Moment. »Ich möchte wissen, warum du nie erwähnt hast, dass dein Onkel unfreundlich zu dir ist.«
»Mein Onkel ist zu fast jedem unfreundlich«, meinte sie ausweichend.
»Zu seinen Gästen ist er durchaus freundlich.«
»Das sind Männer«, antwortete sie und hoffte, dabei gleichgültig zu klingen. »Männer, die nur für die nächste Jagdbeute und die nächste Flasche Schnaps leben. Niemand erträgt sie, deshalb rotten sie sich zusammen, tun, was ihnen gefällt, und bewahren Stillschweigen darüber.«
»So etwas wie Gaunerehre?«
»Schweineehre«, befand sie. »Ohne das Ringelschwänzchen.«
Das entlockte ihm ein kurzes, überraschtes Lachen. »Bist du immer die einzige Frau dabei?«
»Nein. Ein paar Gäste haben auch schon … andere Gäste mitgebracht.«
»Ich verstehe. Und wo ist deine Anstandsdame?«
»Dies ist das Haus meines Onkels. Eine Anstandsdame ist nicht notwendig, um meinen Ruf zu bewahren.«
»Im Moment ist dein Ruf die geringste meiner Sorgen.«
»Nicht nur im Moment, wie es aussieht.«
Er ignorierte diese Feststellung. »Sind sie immer so … schwierig wie heute Abend?«
»Nein.« Manchmal war es viel schlimmer. »Du stellst ziemlich viele Fragen, Whit.«
»Ich möchte auch viele Antworten«, erwiderte er. »Aber jetzt möchte ich vor allen Dingen, dass du nach Haldon zurückkehrst.«
Die Worte waren wie Balsam auf einer Brandwunde, und sie schloss die Augen, als eine Woge der Erleichterung und der Sehnsucht über ihr zusammenschlug.
Sie konnte noch nicht zurückfahren, nicht, wenn sie ihre Erbschaft wollte, aber dass Whit ihr das nach dem heutigen Tag anbot … er hatte ihre größte Angst beschwichtigt.
Beinahe.
Er hatte miterlebt, wie ihr Onkel sich als der unerträgliche Säufer benommen hatte, der er war, aber Whit wusste noch nicht, dass ihr Onkel auch ein richtiges Schwein sein konnte. Und was würde dann geschehen? Dann wäre sie wieder ganz am Anfang – voller Angst und Scham und Fragen.
»Mirabelle?«
Sie öffnete die Augen und sah, dass er sie still und besorgt beobachtete.
Es war nicht recht, dass sie das Verhalten ihres Onkels vor den Menschen geheim gehalten hatte, die dadurch Schaden nehmen konnten – den Menschen, die ihr so viel Freundlichkeit erwiesen hatten.
Es war besser, wenn er es erfuhr und wenn sie das Ganze ein für alle Mal hinter sich brachte.
Sie suchte nach den richtigen Worten und stellte fest, dass nichts so gut passen würde wie die unverblümte Wahrheit.
»Mein Onkel ist grässlich«, gestand sie. Als er nicht antwortete, holte sie tief Luft und fuhr fort. »Ich übertreibe nicht, Whit. In seinen schlimmsten Momenten, die du noch nicht erlebt hast, ist er wirklich schrecklich. Fünf Minuten in ehrbarer Gesellschaft in London, und er hätte den Namen der Familie für immer ruiniert.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Den Namen der Familie«, wiederholte sie. Wirklich, wie war es möglich, dass er nicht begriff? »Meinen Namen.«
»Hast du Angst, er könnte plötzlich ein Interesse daran haben, nach London zu reisen?«
»Was? Nein.« Sie rieb sich über die Beine. »Ich will nur verdeutlichen, dass er eine Belastung ist, wodurch ich ebenfalls eine bin. Ich hätte es dir früher sagen sollen, ich weiß, aber …«
»Einen Moment.« Er hob stirnrunzelnd die Hand. »Du betrachtest dich als Belastung?«
»In gewisser Weise, ja. Du hast so hart dafür gearbeitet, deiner Familie den Platz in der Gesellschaft zu sichern, und eine Verbindung mit mir könnte den
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