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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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Familie«, sagte sie, und das sollte wohl den offiziellen Beginn unseres gemeinsamen Wochenendes markieren.
    »Auf die Familie«, antworteten wir anderen, was mehrstimmig ein bisschen albern klang, und plötzlich waren alle verlegen, jeder auf seine Weise. Gabor zog ein kariertes Taschentuch hervor und begann seine Brille zu putzen, was mir zum ersten Mal die Möglichkeit gab, seine Augen richtig zu sehen. Sie waren grün oder grünbraun und hatten große, schwere Tränensäcke. Hannah inspizierte ihren Rotwein und fischte ein unsichtbares Stück Korken heraus. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie man aus einer Papierserviette eine Lotosblüte faltet, aber leider fiel mir nicht einmal der erste Schritt ein. Und meine Mutter tat das, was sie oft in solchen Situationen tut: Sie trat die Flucht nach vorn an.
    »Und natürlich auf unseren Vater«, sagte sie. »József Molnár, König der Herzen und der Asse im Ärmel, das Phantom der Opfer …«
    »Ich hoffe, dass du niemals in die Verlegenheit kommst, eine echte Rede auf ihn halten zu müssen«, sagte Hannah.
    »Oh, die würde ich gern hören«, sagte Gabor.
    »Die hier ist echt«, sagte meine Mutter. »Aber es geht noch besser, das stimmt.«
    Peggy brachte den Salat. Eine Familie mit drei kleinen Kindern betrat das Restaurant. Sie machte einen Höllenlärm.
    »Aber was ich schon gern mal wüsste«, sagte Gabor und schenkte sich Mineralwasser nach, »ist, was ihr eigentlich so denkt – über unseren Vater.«
    »Fang du doch mal an«, sagte Hannah mit vollem Mund.
    »Na gut«, antwortete Gabor. »Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, aber für mich war unser Vater ein ziemlicher Scheißkerl.«
    »Du hast dich wiederholt«, sagte meine Mutter. »Es ist zwar erst ein paar Jahrzehnte her seit dem letzten Mal, aber was soll’s. Und sonst?«
    »Ich könnte das näher erläutern«, sagte Gabor.
    »Nur zu«, sagte Hannah.
    »Vorausgesetzt, es ist ab sechzehn«, ergänzte meine Mutter.
    »Vatergeschichten sind meistens schon ab sechs«, sagte ich.
    Peggy brachte das Essen. Gabor sah aus, als wäre ihm ein Aschenbecher lieber gewesen, aber er hatte sich freiwillig gemeldet, und jetzt war seine Geschichte dran.

4
    » IM GRUNDE GENOMMEN lässt es sich in wenigen Sätzen zusammenfassen«, sagte Gabor und pflückte ein Basilikumblatt von seiner Pizza. »Statt einer Rede hatte ich mir vor Jahren mal eine Grabinschrift für ihn ausgedacht: Er liebte die Frauen, er hatte keine Ahnung von Verhütung, er log wie gedruckt, und wenn es eng wurde, verpisste er sich.«
    »Eher unüblich auf jüdischen Friedhöfen«, sagte Hannah, während sie energisch an der Pfeffermühle kurbelte.
    »Jetzt tu doch nicht so abgebrüht«, sagte Gabor. »Ich denke, du hast auch ab und zu mal deine schwachen Momente gehabt, in denen du dir gewünscht hast, er hätte zu dir gestanden.«
    »Sicher hatte ich die«, erwiderte Hannah. »Allerdings heule ich heute deswegen nicht mehr rum.«
    »Dafür hast du aber mindestens fünf Therapeuten verschlissen«, warf meine Mutter ein.
    »Sechs«, korrigierte Hannah. »Erinnerst du dich noch an den Spruch von Dr. Hirschfeld, Marika? ›Die meisten von uns ertrinken in einem Meer aus Schmerzen. Lernen Sie endlich schwimmen, Frau Wichmann!‹«
    Gabor sah verärgert aus. »Ich heule nicht rum. Aber ich habe auch nicht die Absicht, die Vergangenheit schönzureden. Ich hatte das zweifelhafte Glück, gleich zwei Arschlöcher als Vater zu haben. Der eine hieß Alfred, und der andere hieß Joschi. Und ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, was es für mich an diesem Wochenende eigentlich zu feiern gibt.«
    Es war nicht viel, was ich über Gabor und seine Familiengeschichte wusste, aber die wenigen Dinge, die mir bekannt waren, klangen wie ein schlecht ausgedachtes Märchen. Meine Mutter sagt, Gabor hätte unwahrscheinliches Pech in seiner Kindheit gehabt, aber die Entscheidung, ein geldgeiler Stinker zu werden, sei letztendlich seine eigene gewesen. Meine Mutter kann bei solchen Dingen ziemlich erbarmungslos sein.
    Wenn ich es richtig behalten habe, hatten sich Gabors Mutter Louise und mein Großvater kurz nach Kriegsende in Deutschland kennengelernt. Louise war damals noch mit Alfred verheiratet gewesen, aber Alfred war samt seiner Panzerdivision, mit der er ausgerechnet in Ungarn gekämpft hatte, von der Roten Armee einkassiert worden und galt seither als verschollen. Ob Louise darüber sehr traurig war, ist nicht überliefert. Jedenfalls verliebten sich Joschi

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