Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
du aber den Abgebrühten«, sagte Hannah.
»Nein, das tue ich nicht«, entgegnete Gabor. »Es war mir wirklich scheißegal. Es erklärte, warum Alfred mich mein Leben lang wie einen Versager behandelt hatte, aber sonst änderte sich überhaupt nichts. Sie hätten es mir nicht sagen müssen. Oder glaubst du etwa, dass Joschi danach seinen väterlichen Gefühlen freien Lauf gelassen hätte?«
»Ich verstehe trotzdem noch nicht, warum du Joschi als Scheißkerl bezeichnest«, sagte Hannah. »Vielleicht hatten sie ja ausgemacht, dass er sich auf keinen Fall in deine Erziehung einmischen darf. Wusstest du damals schon was über Joschis jüdische Vergangenheit und die Geschichte von seiner Frau und seinen Kindern in Auschwitz?«
Gabor versetzte seiner Pizza einen Stoß, der sie halb über den Tellerrand hinausbeförderte. »Natürlich wusste ich das. Louise ließ kaum eine Gelegenheit aus, mich darauf hinzuweisen, was für ein schreckliches Schicksal Joschi hatte erleiden müssen. Ich wollte ihn immer mal fragen, warum er es dann eigentlich so eilig gehabt hatte, seinen zweiten Sohn auch noch loszuwerden, aber irgendwie kam ich nie dazu.«
»Ich könnte dir die Adresse von Dr. Hirschfeld geben«, bot Hannah an. »Herschel Hirschfeld. Er ist Spezialist für Opfer aus der zweiten Generation.«
Gabor sah aus, als wollte er etwas entgegnen, aber dann ließ er es bleiben. Der Belag auf seiner Pizza hatte sich inzwischen in sich selbst zurückgezogen und erinnerte mich an die Himmelsscheibe von Nebra, die auch irgendwo aus dieser Gegend stammen musste. In meiner Familie sind Essen und Erzählen meistens ein und dasselbe, Essen und Zuhören übrigens auch, aber Gabor hatte seine Pizza lediglich bewegt, während er redete. Jetzt starrten er, meine Mutter und Hannah wie hypnotisiert auf die Landschaft auf seinem Teller, als wäre dieser Ort so etwas wie ihr gemeinsames Zuhause, und ich sah mir stattdessen ihre Gesichter an und suchte wieder nach Ähnlichkeiten. Die einzige, die ich entdecken konnte, war ihre helle Haut, das Erbe von Joschi, der angeblich immer behauptet hatte, in seinen Adern flösse so viel blaues Blut, dass man es durchschimmern sah. Wer solch einen Teint besitzt, dem kauft man jede Krankmeldung auf der Stelle ab. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Hannah stand er wegen ihrer roten Haare am besten, während Gabor einfach nur alt und ungesund damit aussah und meine Mutter müde wie fast immer. Ihre und Gabors Nase waren, von der Größe mal abgesehen, tatsächlich fast identisch, aber mehr Gemeinsamkeiten konnte ich beim besten Willen nicht ausmachen. Wo Hannah rund und rot und ausladend war, war meine Mutter schmal und dunkel und gerade. Wer sie zusammen an einem Tisch sitzen sah, würde kaum von allein auf die Idee kommen, dass sie denselben Vater hatten.
Ich fragte mich, was Joschi wohl sagen würde, wenn er seine drei Kinder und mich jetzt sehen könnte, und plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es ihm überhaupt gefiel, dass die drei endlich zusammengekommen waren und ihre Geschichten austauschten.
Gabor räusperte sich. »Ich geh mal eine rauchen«, sagte er und stand auf.
Meine Mutter sah ihm nach, wie er am Tresen vorbeiging, ohne auf Peggy zu achten, mit der er um ein Haar zusammengestoßen wäre. »Ich geh mit«, sagte sie, nahm ihre Tasche von der Stuhllehne und folgte ihm.
»Tut sie’s immer noch?«, fragte Hannah mich, während sie einhändig und mit gekonntem Schwung ihr Handy aufklappte.
»Ich glaube schon«, antwortete ich, aber eigentlich wusste ich überhaupt nicht, wie oft meine Mutter noch Zigaretten rauchte. Was ich hingegen wusste, war, dass sie seit ihrer wilden Jugend immer noch gelegentlich kiffte. Sie hat vor mir nie ein Geheimnis daraus gemacht. Das Gras, das in Tüten oder kleinen Dosen in unserer Wohnung herumliegt, liegt dort rum, seit ich denken kann, genauso wie Tampons, Kleingeld oder Aspirin. Um es gleich vorweg zu sagen: Ja, ich hab’s auch probiert, nein, es geschah nicht in ihrem Beisein, und es war auch nicht ihr Zeug, das ich geraucht habe. Und: Ich habe noch keine endgültige Entscheidung getroffen, aber vorläufig ist es nicht mein Ding. Ihres schon, wie sie gern betont. Wenn meine Mutter bekifft ist, legt sie wunderbare Musik auf und erzählt ihre besten Geschichten. Ich mag das bei ihr. Bei mir klappt es nicht.
»Wir wissen immer noch nicht, warum Gabor Kuscheltiere sprengt«, sagte ich.
»Bei so einer Biografie kann man eigentlich dankbar
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