Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
und Louise, und um heiraten zu können, ließen sie Alfred für tot erklären. Ende 1947 kam Gabor auf die Welt. Und etwa zwei Jahre später – Überraschung! – stand plötzlich Alfred vor der Haustür.
Wenn ich mir diese Szene vorstelle, ist es immer Joschi, der mit Gabor auf dem Arm zur Tür geht, um aufzumachen. Ja, bitte, sagt er zu dem fremden Mann, aber der Unbekannte antwortet nicht, sondern starrt Joschi nur an, und im gleichen Augenblick, in dem ihm klar wird, wen er da vor sich stehen hat, lässt Joschi vor Schreck Gabor fallen. Meine Mutter sagt, das könnte der Wahrheit sogar recht nahekommen, zumindest symbolisch, denn bald nach Alfreds Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft einigten sich die drei auf einen ziemlich merkwürdigen Kompromiss: Alfred bekam Louise wieder zurück und Gabor gleich noch mit dazu. Joschi ging leer aus, blieb aber zeit seines Lebens ein Freund der Familie. Das ging sogar so weit, dass meine Mutter später Louises Patenkind wurde und einen Großteil ihrer Ferien bei ihr verbrachte. Louise, sagt meine Mutter, sei eine eindrucksvolle Frau gewesen mit rot lackierten Fingernägeln, klappernden goldenen Armreifen und blutrot geschminktem Mund. Wenn sie nicht gerade rauchte und Patiencen legte, fluchte sie wie ein Bierkutscher oder kriegte hysterische Heulkrämpfe. Meine Mutter wollte als Kind unbedingt werden wie Louise. Zum Glück hat sie es sich noch mal anders überlegt.
»Was ich dich immer schon mal fragen wollte«, sagte Hannah zu Gabor. »Kannst du dich eigentlich an irgendwas aus der Zeit vor Alfreds Rückkehr erinnern?«
»Ich bitte dich, ich war damals zwei Jahre alt«, sagte Gabor und begann seine Pizza mit der Messerspitze auf dem Teller hin und her zu schieben. »Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Es gibt einen längeren Spaziergang mit Joschi, an den ich mich erinnere, und der fand statt, nachdem ich in der Schule beim Klauen erwischt worden war. Er redete irgendwas von Kindern daher, die dankbar sein sollten dafür, dass sie ein schönes, warmes Bett und ein Dach über dem Kopf hatten. Ich verstand überhaupt nicht, was ihn die ganze Sache anging, aber ich war froh, dass ich diesen beschissenen Spaziergang nicht mit Alfred machen musste.«
Alfred. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, muss er so eine Art kinderfressendes Monster gewesen sein. Nach seiner Heimkehr legte er eine rasante Karriere als Direktor einer Fabrik für Spezialprothesen hin, saß im Vorstand einer Bank und hatte einen Chauffeur, eine Villa, eine Segelyacht und ein Alkoholproblem. Wenn er besoffen war, hielt man sich besser nicht in seiner Nähe auf. Wenn er nüchtern war, auch nicht. Louise schien es trotzdem gut mit ihm auszuhalten, aber dafür gab es ja auch die vielen schicken Empfänge und Cocktailpartys und Geschäftsreisen in ferne Länder, in die Alfred seine Spezialprothesen exportierte. Louise hatte überhaupt den richtigen Instinkt gehabt, was die endgültige Wahl ihres Ehemannes anging, sagt meine Mutter, aber der Fairness halber müsse man hinzufügen, dass sie nie damit aufhörte, Joschi zu sich nach Hause einzuladen und später Joschi und Lotte und noch später dann Joschi, Lotte und meine Mutter. Wahrscheinlich war das ihre Art, die Familie zusammenzuhalten. Weshalb Gabor seit seinem zehnten Lebensjahr in Internate abgeschoben wurde, aus denen er in schöner Regelmäßigkeit wieder rausflog, lässt sich nicht so genau sagen. Hannah meint, dass es damals einfach dazugehörte, wenn man so ein Bürschchen aus feinem Hause war.
»Wie haben sie’s dir eigentlich gesagt?«, fragte meine Mutter. »Oder hast du in Wohnzimmerschränken herumgeschnüffelt wie Hannah und ich?«
»Oh nein, ich bekam den Klassiker zu meinem achtzehnten Geburtstag serviert«, antwortete Gabor und begann mit affektiert verstellter Stimme zu sprechen. »Gabor-Schätzchen, Joschi und ich haben dir etwas Wichtiges mitzuteilen, jetzt, wo du ein erwachsener Mann bist.«
»War Alfred auch dabei?«, unterbrach meine Mutter ihn.
»Nein«, sagte Gabor, nun wieder mit seiner normalen Stimme. »Nur Joschi und Louise. Joschi sagte keinen Ton und rauchte eine Zigarette nach der anderen, während Louise sich bemühte, mir eine tragische Liebesgeschichte zu präsentieren, die sich zwischen den Trümmern Nachkriegsdeutschlands abgespielt hatte. Und dann am Ende, ach, edler Verzicht auf der einen Seite und großzügige Übernahme von Frau und Bastard auf der anderen. Ich hätte kotzen können.«
»Jetzt spielst
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