Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
fünf mal fünf Meter groß, schenkte mir noch ein wenig Aufschub. Ein Steinklotz im Inneren trug die Inschrift »Goethe-Eiche« und meinte damit wohl den stattlichen Baumstumpf im Zentrum des Quadrats. Dass die Nazis auf Goethe gestanden hatten, war mir neu. War womöglich das ganze Lager um diese gute alte deutsche Eiche herumgebaut worden? Hatten sie Menschen daran aufgehängt oder ihre Schäferhunde dagegenpinkeln lassen? In diesem Moment riss der Himmel auf, und der Baumstumpf erstrahlte in der Mittagssonne. Mit seiner Zementfüllung sah er aus wie ein alter, abgekauter Zahn. Ich war sicher, er hatte sich schon oft gewünscht, sie würden ihn endlich mal mit Stumpf und Stiel ausgraben, statt ihn hier als Goethe-Eiche auszustellen.
Arvo Pärts Chöre waren verstummt. Als ich mich zum Kammergebäude umdrehte, sah ich zu meiner größten Erleichterung meine Mutter auf mich zukommen, allein. Sie winkte mir zu.
Ich hatte kein einziges Mal an Jan gedacht.
Von meiner Mutter heißt es immer, sie wäre schon als Kind davon überzeugt gewesen, das Überleben ihrer Familie hinge davon ab, dass sie als Einzige die Nerven behielt. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals in der Öffentlichkeit weinen gesehen zu haben, vom Schlafen ganz zu schweigen. Selbst im Kino schaffte sie es, ihre Tränen so diskret und beiläufig fließen zu lassen, als würden sie eigentlich jemand anderem gehören, dem sie freundlicherweise ihre Wangen zur Verfügung gestellt hatte. Wenn ich sie dann ansprach und sie mir ihr Gesicht zuwandte, lächelte sie schon wieder. Sie lächelte auch jetzt. Sie hatte rote müde Augen.
»Stell dir vor, Lily«, sagte sie, »sie haben da so eine Vitrine, wie ein endlos langer Tisch mit einer Glasplatte drüber, und darin liegen die Fundstücke aus dem Lager, die sie später ausgegraben haben. Knöpfe. Es sind vor allem Knöpfe. Als wären Menschen Wesen, die ständig Knöpfe verlieren müssen, selbst an so einem Ort wie diesem.«
Ich stellte mir Männer in gestreifter Häftlingskleidung vor, denen die Knöpfe von den Jacken sprangen. Ich sah sie auf dem Boden herumkriechen und ihre Knöpfe suchen.
»Ab und zu ein paar Münzen. Selbst gemachte Kämme. Ein kleines Herz aus Achat. Und dann diese Zahnprothese.«
Jetzt waren es Zähne, nach denen die gestreiften Männer suchten, mit offenen Jacken, zahnlos.
»So eine Zahnprothese aus Metall, die man sich in den Unterkiefer reinhängen kann, glaube ich. Drei, vier Kunstzähne an jeder Seite und vorne eine Klammer. Gott, ich weiß nicht, warum mir das so nahegegangen ist. Mehr als alles andere, was es da oben zu sehen gab. Und das war nicht gerade wenig.«
»Du hast mir mal erzählt, dass Joschi damals alle seine Zähne verloren hat«, sagte ich.
»Ja, vielleicht ist es das.« Sie legte den Kopf in den Nacken und sah an den grauen Mauern hoch. »Da oben hängen auch jede Menge Fotos aus dem Lager. Ich habe sie alle von oben nach unten durchgescannt, ob vielleicht Joschis Gesicht darunter ist. Ich weiß, ich würde ihn entdecken, wenn er auf einem Bild drauf wäre. Und gleichzeitig hatte ich so eine Angst davor.«
»Aber er war nirgendwo drauf.«
»Nein, war er nicht. Leider.«
»Und wo ist Hannah?«
»Sie ist adoptiert worden. Von einer kleinen alten Holländerin mit einem Gehwagen. Als ich ging, redeten sie immer noch. Hannah sagte, sie würde nachher zur Anmeldung kommen und da auf uns warten. In einer halben Stunde.« Sie sah auf ihre Uhr. »Wir haben also noch mindestens eine Stunde Zeit. Hast du irgendeine Ahnung, wo Gabor sein könnte?«
»Ich habe ihn vorhin gesehen«, sagte ich. »Ich wollte ihn nicht stören, und deshalb bin ich weggegangen, aber ich würde gern noch einmal dort hingehen. Es ist da hinten im Grünen.«
»Da muss irgendwo auch das kleine Lager sein«, sagte meine Mutter. »Ich komme mit.«
Wir nahmen einen Weg, der parallel zum Waldrand verlief. Links von uns lag das Steinmeer mit den vielen Baracken, rechts grasbewachsene Schutthügel und zwischendurch Ausgrabungen, die keine Tempelanlagen ans Tageslicht brachten, sondern nur weitere Fundamente von hässlichen Gebäuden mit hässlichen Namen. Hygiene-Institut. Fleckfieberseruminstitut. Währenddessen erzählte meine Mutter von der Ausstellung. Sie fand sie eindrucksvoll und erschütternd. Trotzdem war sie mit mir einer Meinung, dass ich mir meinen Besuch dort sparen konnte.
»Darüber kannst du auch schreiben, ohne dort gewesen zu sein«, sagte sie. »Wenn du willst, kannst du
Weitere Kostenlose Bücher