Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
freimachten.
Als ich die Stirnseite des Blocks erreichte, den sie gerade verlassen hatten, fiel mir auf, dass seine Grundfläche nicht mit dunklem Schotter, sondern mit großen hellen Steinbrocken aufgefüllt war. Die nördliche Längsseite wurde von einer schmalen Betonmauer begrenzt, die außen zum Weg hin fast ebenerdig verlief. Auf ihrer Innenseite war sie durch die allmähliche Absenkung der Geröllfläche wie eine Wand freigelegt. Das Ganze sah aus, als befände sich in der Mitte der Mauer in etwa zwei Meter Tiefe ein Abfluss, der die gewaltige Steindecke nach unten sog.
Ich ignorierte das Hinweisschild, das mir diesen Block erklären wollte, und wandte mich der Längsseite zu, an der eben noch der Mann gekauert hatte. Ein überdimensionaler Schriftzug lief parallel zum Mäuerchen an der gesamten Länge des Grundrisses entlang; Wörter aus Stein, die im Kiesweg versanken. »Kindern« stand vor meinen Füßen. Weil ich mich am hinteren Ende befand, konnte ich den Text beim Abschreiten nur rückwärts lesen. Als ich beim Anfang des Satzes angekommen war, musste ich sogar wieder ein Stück zurückgehen, bis ich ihn wirklich verstanden hatte. »Auf daß erkenne das künftige Geschlecht, die Kinder, die geboren werden, daß sie aufstehen und erzählen ihren Kindern.« Der Satz war 28 Schritte lang und beschrieb ziemlich exakt, wie es in unserer Familie zuging: Joschi hatte kein einziges Wort mit seinen Kindern darüber gesprochen, aber meine Mutter und Hannah, das künftige Geschlecht, waren aufgestanden und hatten es ihren Kindern erzählt, nämlich mir.
Noch hatte ich nicht einmal die Hälfte der gesamten Zeile bewältigt. An die deutsche Inschrift schloss die hebräische an, und weil ich wusste, dass man Hebräisch von rechts nach links liest, ging ich sie in der korrekten Richtung ab und tat so, als könne ich sie lesen. Die steinernen Buchstaben wirkten stolz und streng. Hebräische Schrift sieht aus, als hätte ein Künstler sie entworfen, und ein genervter Schriftgelehrter wäre hinterher noch mal drübergegangen und hätte sie aufs Allernötigste reduziert. Weil auch die Vokale eingespart wurden, war bereits nach 11 Schritten alles gesagt, und ich kam beim englischen Satz an, der eigentlich den Anfang der Reihe bildete – vertraute Buchstaben, die trotz der Bibelsprache und mehr als 30 Schritten für mich viel schneller einen Sinn ergaben als ihre deutsche Version: »So that the generation to come might know, the children, yet to be born, that they too may rise and declare to their children.«
Etwa auf gleicher Höhe mit dem hebräischen Text war die Mauer mit Kieselsteinen in allen Größen und Farben bedeckt. Hannah hatte mir erzählt, dass es unterschiedliche Theorien über die Herkunft des Brauchs gab, Steine für die Toten hinzulegen. Nach dem, was sie wusste, war dem jüdischen Volk auf der Suche nach dem Gelobten Land nichts anderes übrig geblieben, als seine Toten in der Wüste zu begraben. Die Steinhaufen waren als Warnung für die Priester gedacht, die sich einer Leiche nur bis zu einem gewissen Abstand nähern durften. Erst im Laufe der Zeit war daraus ein Ritual geworden, das besagte: Möge meine Erinnerung an den Toten so beständig sein wie der kleine Stein, den ich für ihn mitgebracht habe.
Mir fielen die drei Steine wieder ein, die seit heute Morgen in meiner Hosentasche steckten. Ich suchte mir noch einen vierten und legte die Steine auf die Mauer: einen für Joschi, einen für seine Frau Margit, einen für Véra und einen für Tamás. Ich trat einen Schritt zurück. Wenn ich die Augen ein wenig unscharf einstellte, konnte ich überall Sterne sehen, lauter Sterne aus Steinen, die ineinanderwuchsen.
Und jetzt: das Kammergebäude. Es war sinnlos, die Begegnung noch weiter hinauszuzögern. In weniger als zehn Minuten wollten meine Mutter und Hannah mich dort im ersten Stock in Empfang nehmen, und zumindest bei meiner Mutter konnte ich sicher sein, dass sie pünktlich sein würde. Ich holte die Broschüre aus dem Rucksack und las: »Neuzugänge ließen in diesem Haus alles zurück, was sie bei sich trugen, und erhielten Einheitskleidung, Nummer und Winkelkennzeichen aus Stoff. Seit der Restaurierung Mitte der Achtzigerjahre wird das Gebäude als Ausstellungsort für die Geschichte des Konzentrationslagers genutzt.« Wer vorhatte, ein Referat über Buchenwald zu schreiben, sollte also besser mal reinschauen. Wer dort verabredet war, übrigens auch.
Ein abgesenktes Rechteck, vielleicht
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