Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
meine Geschichte mit den Knöpfen und der Zahnprothese haben.«
So sind wir Molnárs: großzügig im Verschenken der Urheberrechte an unseren Geschichten.
»Was ist das für ein kleines Lager?«, fragte ich. »Weißt du mehr darüber?«
»Ein bisschen. Dieses berühmte Foto von den halb toten KZ-Insassen, die in ihren Kaninchenverschlägen liegen und fassungslos in die Kamera der Befreier starren, das stammt aus dem kleinen Lager. Die Baracken im eigentlichen Lager waren so was wie Bungalows gegen die Behausungen hier. Hier wurde gelitten und krepiert.«
»Mehr als da drüben?«, fragte ich und zeigte auf die Fundamente des Hauptlagers.
»Ich denke, da drüben war’s schon schlimm genug«, sagte meine Mutter. »Aber hier muss die reine Hölle gewesen sein. Es war ein Sammellager und Umschlagplatz für Neuankömmlinge. Vor allem Juden waren hier. Viele von ihnen kamen aus Auschwitz. Sie wussten, was mit denen passieren würde, die sie dort zurückgelassen hatten. Von hier aus wurden sie dann in andere KZs oder Arbeitslager geschickt.«
»Dann war Joschi auch im kleinen Lager? Du hast gesagt, er wäre zuerst in Buchenwald und dann das letzte halbe Kriegjahr als Zwangsarbeiter im Harz gewesen.«
»Das stimmt, aber in einem Durchgangslager verbrachte man eigentlich kein ganzes Jahr. Das war ein Ort zum Verlassen oder zum Sterben, aber nicht zum Bleiben.«
Mir fiel Gabors Bemerkung von der Herfahrt wieder ein. Meiner Mutter auch, das konnte ich sehen.
»Woher wisst ihr überhaupt, wann Joschi in Buchenwald war, wenn er nie mit euch darüber gesprochen hat?«
»Aus seinem Nachlass. Es gibt einen Durchschlag von der Bewilligung seines Antrags auf Wiedergutmachung, Anfang der Fünfzigerjahre war das. Darin hat er als eidesstattliche Erklärung angegeben, wann und wie lange er wo in welchem Lager inhaftiert war. Seine Aufzählung ist etwas vage, aber lang. Sie beginnt 1941.«
»Und warum hast du nie nachgeforscht, ob es irgendwo noch weitere Unterlagen über ihn gibt?«
Meine Mutter blieb vor einem Hinweisschild stehen. »Schau mal, hier steht was über das kleine Lager. Da hinten muss die Gedenkstätte sein.«
Erst wollte ich eine Antwort. »Wieso hast du nie nachgefragt?«
»Weil ich mir das Nachfragen schon als Kind abgewöhnt habe?« Sie lächelte, aber ihre Stirnfalte wurde deutlich tiefer. »Oder vielleicht, weil ich keine finsteren Geheimnisse von Joschi aufdecken wollte?«
»Was für finstere Geheimnisse?«
»Lily«, sagte meine Mutter. »In einem Punkt hat Gabor bestimmt recht: dass Joschis Angaben über seine Haftzeit nicht ganz korrekt waren. Ob er damit mehr Geld für die Entschädigung rausholen oder irgendetwas anderes verschleiern wollte, weiß ich nicht. Aber ich finde, dass ich das letztendlich respektieren muss, auch wenn es bedeutet, dass ich dann nie erfahren werde, was sich damals tatsächlich abgespielt hat.«
»Heißt das, du glaubst, dass er gar nicht hier in Buchenwald war?«
»Doch, das glaube ich. Genauso wie ich sicher bin, dass seine Frau und seine Kinder in Auschwitz umgebracht wurden. Wie Hannah schon sagte: Allein das reicht aus, um dich für den Rest deines Lebens fertigzumachen.«
Ich fragte sie nach dem gestrigen Abend in der Hotelbar. Meine Mutter überlegte.
»Könnte schon sein, dass Gabor deswegen schlechte Laune hat. Allerdings ist Hannah nicht besonders weit gekommen mit ihrer Geschichte. Ich glaube, er hat sich schon bei der Stelle verabschiedet, wo ihre Mutter sie als Sechsjährige alle KZ-Standorte auswendig lernen lässt.«
Diese Szene war allerdings auch zum Rauslaufen, fand ich. Was immer Hannahs Mutter dazu angetrieben haben mochte, ihre Tochter mit einer derartigen Besessenheit zum Judenkind zu erziehen – begriffen habe ich es bis heute nicht. Meine Mutter vermutet, dass Frieda sich auf diese Weise einreden konnte, sie hätte einen Spezialauftrag zu erfüllen, und das klang für eine Katholikin bestimmt besser, als einfach nur ein uneheliches Kind zu haben. Hannah wiederum sagt, es hätte ihr überhaupt nicht geschadet, mit sechs Jahren schon solche Dinge gewusst zu haben, aber sie hätte sehr darunter gelitten, dass sie mit niemandem darüber reden durfte. Ihre jüdische Abstammung war Thema Nummer eins und gleichzeitig Top Secret gewesen. Mir fallen nur wenige Dinge ein, die einen noch einsamer machen könnten.
Wir gingen ein Stück in das Wäldchen hinein, das sich auf dem hinteren Teil des kleinen Lagers ausgebreitet hatte.
»Ich weiß, es klingt
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