Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Es sind Aufnahmen, die Anfang der Vierzigerjahre in einem Budapester Fotoatelier gemacht wurden; handkoloriert, sagt meine Mutter. In Hannahs Wohnung hängen zwei Abzüge zusammen mit dem berühmten Joschi-wirft-einen-Schatten-Foto und zahlreichen anderen Familienbildern neben dem Esstisch. Bei uns zuhause findet man sie erst nach längerem Suchen und auch nur dann, wenn man das komplizierte Ablagesystem meiner Mutter versteht. Bilder müssen reisen, sagt sie. Also sind die Bilder in unserer Wohnung ständig unterwegs, sie wandern von Wänden in Schubladen hinein und auf Regale und von dort aus wieder zurück an eine andere Wand. Meine Mutter illustriert Bücher, und auch ihre Zeichnungen müssen erst mal einen langen Weg zurücklegen, bevor sie in einem Buch erscheinen dürfen. Sie sagt, sie habe in ihrem ganzen Leben noch nie ein Bild verloren. Es gibt auch eine große Kiste für müde Bilder, die schon viel herumgekommen sind. Dort habe ich Véra und Tamás das letzte Mal gesehen.
Besonders das Foto von Véra habe ich immer sehr gern gemocht, aber meine Mutter sagt, sie hätte Véra früher total doof gefunden mit ihrem altmodischen roten Samtkleid und der riesigen Propellerschleife auf den blonden Kringellocken. Der grinsende Tamás mit seinen Segelohren hätte ihr da schon besser gefallen. Allerdings hätte sie außer ihren Namen lange nicht gewusst, wer diese Kinder überhaupt waren. Die Bilder hingen so selbstverständlich an der elterlichen Schlafzimmerwand wie die Sterne am Himmel, und bei denen fragte man schließlich auch nicht, wie sie dorthin gekommen waren, außer man war ein bisschen blöd. Meine Mutter war natürlich kein bisschen blöd, und selbst als sie irgendwann mal aufschnappte, dass Véra und Tamás Kinder von Joschi waren und schon ganz, ganz lange tot, stellte sie keine weiteren Fragen, denn bei Leuten, die schon ganz, ganz lange tot waren, gab man erst recht nicht zu, dass man immer schon rasend eifersüchtig auf sie gewesen war, ohne zu wissen, warum. Hannah erzählte mir einmal, meine Mutter sei zwar eine laute, aufmüpfige Rebellin gewesen, als sie sich mit vierzehn kennenlernten, aber gleichzeitig von einer unfassbaren Ahnungslosigkeit umnebelt, was ihre eigene Familiengeschichte betraf.
»Wenn ich Joschi als Kind etwas über ihn gefragt habe, herrschte danach entweder verbissenes Schweigen, oder es folgte ein langes, abstruses Lügenmärchen«, war die Antwort meiner Mutter gewesen, nachdem ich ihr von Hannahs Bemerkung erzählt hatte. »Da habe ich eben angefangen, mir selber einen Reim auf alles zu machen.«
Reimen bedeutete unter anderem, dass meine Mutter auf die Frage nach dem Beruf des Vaters bei der jährlichen Klassenbucherhebung mal mit Privatdetektiv, mal mit Erfinder, Buchmacher oder Rentner antwortete, obwohl sie ihn insgeheim lange Zeit für einen flüchtigen Bankräuber gehalten hatte, weil er ihr nie verraten wollte, wie es zum Verlust seines linken kleinen Fingers gekommen war. Joschi seinerseits strickte an der Legende weiter, indem er sich bei Elternabenden gern mal als erfahrener Pädagoge oder leidenschaftlicher Naturwissenschaftler ausgab. In Wirklichkeit war er seit der Geburt meiner Mutter Hausmann und Vollzeitvater, und meine Großmutter Lotte ernährte die Familie mit ihrem Lehrerinnengehalt. Meine Mutter hatte die modernsten Eltern aus dem ganzen Dorf, aber das machte in den Klassenbüchern der Sechzigerjahre nicht viel her.
Hannah hatte übrigens ein ähnliches Problem, allerdings war es bei ihr der komplette Vater, den sie in der siebten Klasse erstmalig ins Klassenbuch eintragen ließ, dorthin, wo die Spalte jahrelang leer gestanden hatte. Weil er bei ihrem ersten Treffen behauptet hatte, er handle mit Schmuck und Edelsteinen, bezeichnete sie ihn als Juwelier und hielt sogar dem skeptischen Blick ihres Klassenlehrers stand. Im Jahr darauf wechselte sie sicherheitshalber zu »Kaufmann« und blieb für den Rest ihrer Schulzeit dabei.
Überhaupt, Hannahs Geschichte. Mir lag viel daran, dass Gabor mehr darüber wusste, auch wenn es bedeutete, dass ich jetzt meine buddhistischen Silas strapazieren und mich ahnungslos stellen musste.
»Ihr habt gestern Abend bestimmt auch darüber gesprochen, wie Holmes die Wahrheit über Watson rausgefunden hat, oder?«
Meine Mutter warf mir einen amüsierten Blick zu.
»Wir haben was?«, fragte Gabor.
»Wir sind nicht mal bis zu meiner Einschulung gekommen, Lily«, sagte Hannah.
»Wer bitte sind Holmes und Watson?«
Weitere Kostenlose Bücher