Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Moment dachte meine Mutter sogar noch, der Brief wäre von ihr selber. Aber dann begriff sie, dass das die Wahnsinnsentdeckung war, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte und die sonst immer nur Leuten in Büchern passierte. Sie wartete, bis sie mit Joschi allein war, und forderte eine Erklärung. Joschis Antwort kam so schnell und vorbereitet, dass Mami heute noch davon überzeugt ist, er hätte den Brief extra als Köder für sie ausgelegt.«
»Ich habe ihn bei jedem Treffen damit genervt, dass ich meine Schwester gern kennenlernen würde«, warf Hannah ein. »Ich glaube, er war einfach mürbe geworden.«
»Joschi sagte, der Brief sei von seiner Tochter Hannah«, fuhr ich fort. »Hannah wohne mit ihrer Mutter weit weg in einer anderen Stadt, und sie sei genauso alt wie Marika, na ja, ein kleines bisschen jünger, fünf Monate, um es genau zu sagen. Mami rechnete nach und fand, dass das ein ziemlicher Hammer war: Joschi hatte ein anderes Kind gezeugt, noch bevor sie geboren war. Aber ihre Begeisterung darüber, nach all den Jahren des langweiligen Einzelkinderdaseins plötzlich eine Schwester zu haben, die sogar noch lebte, war größer als alles andere, und bald darauf arrangierte Joschi ein erstes Treffen zu dritt.«
»Hübsche Geschichte«, sagte Gabor. »Ich komme nicht zufällig auch drin vor, oder?«
»Ich fürchte, nein«, sagte Hannah. »Es sei denn, Lily möchte dich aus dramaturgischen Gründen einbauen.«
Ich machte erst mal ohne Gabor weiter. »Die erste Begegnung fand in einem Zoo statt, direkt vor dem Affenhaus. Es war Liebe auf den ersten Blick, obwohl Hannah meiner Mutter eine Platte mit jiddischen Liedern mitgebracht hatte. Mami rächte sich ein paar Wochen später bei ihrem nächsten Treffen, indem sie Hannah zum Rauschgiftkonsum zwang.«
»Nein, Lily, das geht jetzt zu weit«, sagte meine Mutter. »Ihr hättet sehen sollen, mit welcher Leidenschaft sie an dem Joint gezogen hat.«
»Aber mir war hinterher schlecht«, sagte Hannah. »Und danach habe ich das Zeug nie wieder angerührt. Was du mit meiner tollen Platte gemacht hast, will ich übrigens gar nicht wissen.«
»Du kommst doch noch in der Geschichte vor, Gabor«, sagte meine Mutter. »Für unser zweites Treffen hatte Hannah sich nämlich vorgenommen, mich gründlich aufzuklären. Als das Wochenende vorbei war, war ich plötzlich jüdisch und hatte einen Bruder namens Gabor.«
»Nur mit Drogen kanntest du dich besser aus als ich«, meinte Hannah.
»Und mit Musik.« Meine Mutter war in dieser Hinsicht ein bisschen selbstgefällig.
»Du hast von Hannah erfahren, dass ich dein Bruder bin?«, fragte Gabor überrascht. »Und Auschwitzgeschichten hattest du dir bis dahin auch nicht anhören müssen?«
»Ich bin im Märchenland groß geworden, Gabor«, antwortete meine Mutter. »Und Hannah im Judenkinderland. Und du im Niemandsland.«
Ich fragte mich, in was für einem Land ich groß geworden war. Mir fiel kein Name dafür ein, aber es war ein freundliches und etwas unaufgeräumtes Land, in dem unglaublich viel geredet wurde.
»Nach diesem Wochenende kam es dann bei uns zum großen Showdown«, erzählte meine Mutter weiter. »Lotte war außer sich, als sie von Hannahs Besuch in unserer Wohnung erfuhr. Sie zwang Joschi, mir zu sagen, dass er auch der Vater von Gabor war, und ich tat so, als würde ich es zum ersten Mal hören. Im Gegenzug warf ich Joschi vor, dass er mir nie erzählt hatte, dass er Jude war. Und das war das Ende vom Märchenland. Keine Lügen mehr, aber leider auch keine Wahrheiten. Es dauerte noch fast zwei Jahre, bis Joschi auszog, aber wir sind uns in dieser Zeit kein bisschen nähergekommen, im Gegenteil. Ich redete mir ein, dass es mir sowieso scheißegal war.«
»Ich erkenne da eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dir und Gabor«, bemerkte Hannah. »Zumindest was das ›scheißegal‹ betrifft.«
»Ich war Punk, Doktor Hirschfeld«, entgegnete meine Mutter.
»Oh ja, ich vergaß«, sagte Hannah und beugte sich zu mir. »Sie hat noch nicht mal bei Joschis Beerdigung die Sicherheitsnadel aus dem Ohr genommen.«
»Ohne die hätte ich diesen Tag nicht durchgestanden. Ich war so wütend, dass Joschi sich einfach verpisst hatte. Ich war wütend, dass kaum einer dort wusste, wer Hannah war. Und dann noch diese grauenhafte Rede vom Rabbi. Er muss sich sämtliche Informationen über Joschi, die wir ihm vorher gegeben hatten, falsch notiert haben.«
»Aber eure stimmten doch auch nicht«, sagte Gabor.
»Danke für die
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