Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
ich hatten uns bis dahin Gedanken darüber gemacht, dass Joschi nach dieser Theorie gar kein richtiger Jude sein konnte. Es war direkt vor dem Begräbnis, wir saßen im Arbeitszimmer vom Rabbi, und der Rabbi wollte Informationen aus Joschis Leben haben, die er in seiner Traueransprache verwenden konnte. Also erzählte Lotte ihm von seiner Frau und seinen Kindern, die nach Auschwitz deportiert wurden, und dann erzählte sie von Budapest und Joschis jüdischem Vater und seiner Mutter, aber die sei ja nicht Jüdin gewesen, sondern eine eingewanderte schwäbische Bauerntochter.«
Ich stellte mir vor, wie meine Großmutter sorgfältig und nach bestem Gewissen dem Rabbi unsere Familienverhältnisse erklärte.
»Der Rabbi wurde bleich, als sie das sagte, und meinte, nein, nein, davon wolle er jetzt aber gar nichts hören. Lotte war etwas irritiert und ich auch, und ich habe erst viel später kapiert, dass sie Joschi fast vom jüdischen Friedhof runtergequatscht hätte.«
»Wer nicht nachweisen kann, dass er eine jüdische Mutter hat, wird gar nicht erst von der Jüdischen Gemeinde aufgenommen«, sagte Hannah, die es wissen musste. »Damit dürfte dieses Thema wohl erledigt sein, oder? Außerdem können schwäbische Bauern auch jüdische Töchter haben, mit Verlaub.«
Gabor gab sich noch lange nicht geschlagen. »Meine Güte, Hannah, stell dir doch einfach mal vor, da steht so ein ungarischer Zwangsarbeiter vor dir, den es nach Deutschland verschlagen hat, ohne Papiere, ohne Familiendokumente, und behauptet, er sei Jude. Warum sollen sie ihn denn nicht aufnehmen? Wahrscheinlich waren sie damals froh um jedes Mitglied, das noch am Leben war.«
»Und sie haben es dabei belassen, in seiner Unterhose nachzuschauen, ob er beschnitten war? Vergiss es, Gabor, so amateurhaft stellt sich kein Rabbi an, der eine Neuaufnahme zu verantworten hat.«
»War er denn überhaupt beschnitten?«, fragte Gabor.
»War er«, sagte meine Mutter.
»Äh, darf ich mal was fragen?«, sagte ich. »Wisst ihr denn überhaupt, wann Joschi in die Jüdische Gemeinde eingetreten ist? Vielleicht hat er das erst gemacht, nachdem er sich von Lotte getrennt hat, also irgendwann kurz vor seinem Tod, und da hatte er schon jahrelang Entschädigung bekommen. Die Sache, die Gabor gemeint hat, ist doch gleich nach dem Krieg gewesen. Es kann doch sein, dass die deutschen Behörden damals viel eher geglaubt haben, dass einer Jude ist, wenn er es behauptet hat. Die hatten doch bestimmt ein schlechtes Gewissen, wenn jemand ankam und sagte, er wäre im KZ gewesen und hätte keine Papiere mehr.«
»Dein Großvater war Jude, Lily, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel«, sagte Hannah mit Entschiedenheit.
Gabor kam jetzt richtig auf Touren. »Du hast hier nicht die alleinige Definitionsmacht, meine Beste«, sagte er. »Du weißt letztendlich auch nur das, was deine liebe Mami dir erzählt hat. Nur weil es besser in deine Biografie passt, kannst du noch lange nicht beweisen, was damals wirklich passiert ist.«
»Keiner von uns weiß mehr als das, was die Mami erzählt hat«, sagte meine Mutter. »Außer dir, du hast noch deine Alfred-Weisheiten. Mit dem als neutralen Zeugen kämst du allerdings nirgendwo durch.«
Gabor stürzte seinen Kaffee in einem einzigen Schluck herunter. »Aber im Gegensatz zu euch bin ich nicht beseelt von der Vorstellung, Jude zu sein. Ich finde, das trübt euren Blick ganz gewaltig.«
»Es hat durchaus Momente gegeben, in denen ich auch daran gezweifelt habe, dass Joschi wirklich Jude war«, sagte meine Mutter ruhig.
»Wie bitte?« Hannah sah sie irritiert an. »Was soll das jetzt werden? Unser Vater mag in vielerlei Hinsicht unseren, sagen wir mal, Erwartungen nicht entsprochen haben, aber jetzt auch noch seine jüdische Identität in Frage zu stellen, das finde ich geradezu unanständig.«
»Ach komm, Hannah«, sagte meine Mutter. »Wir wissen doch in Wirklichkeit so wenig. Das Einzige, was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass er ein großartiger Verbieger von Wahrheiten war. Deiner Mutter hat er erzählt, dass er als 10-jährige jüdische Vollwaise von seiner älteren Schwester und ihrem christlichen Ehemann als Katholik erzogen wurde. Meiner Mutter hat er erzählt, er wäre der Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns und seiner nichtjüdischen Ehefrau. Was weiß ich, was er Louise erzählt hat …«
»Jüdische Großfamilie aus dem 7. Bezirk von Budapest. Bettelarm«, sagte Gabor. »Acht Geschwister. Alle im Holocaust
Weitere Kostenlose Bücher