Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
wusstest«, sagte Hannah beim Aussteigen zu mir.
»Aber sie ist mit Robbie aus der Hotelbar verlobt«, behauptete ich. »Also pass auf.«
Anni trug einen Jogginganzug, besaß eine funkelnde italienische Espressomaschine und hätte Robbies Großmutter sein können. Das erinnerte mich wieder an die Holländerin mit dem Rollwägelchen. Ich fragte Hannah nach ihr.
»Sie hieß Bella. Ihr Mann war in Buchenwald gewesen. Bis zu seinem Tod hat er praktisch von nichts anderem geredet. Immer, jeden Tag. Sie kannte alle Geschichten aus dem Lager auswendig. Er ist letztes Jahr gestorben, und da wollte sie ihn endlich selber sehen, diesen Ort, mit dem sie fast fünfzig Jahre verheiratet gewesen war.«
»So ziemlich das Gegenteil von unserem Vater«, sagte meine Mutter und probierte vorsichtig von ihrem Milchkaffee, hielt einen Augenblick inne und nahm dann einen weiteren Schluck. »Der Kaffee ist gut. Ich werde Anni den Apostroph hinter ihrem Namen verzeihen.«
»Unser Vater hat nichts aus Buchenwald erzählt, weil es ganz offensichtlich nichts zu erzählen gab«, sagte Gabor und begann, wie wild den Inhalt seiner Tasse umzurühren.
»Das hat Tante Louise auch immer gemacht, wenn es dramatisch wurde«, sagte meine Mutter verblüfft. »Hey, Gabor, du bist ja wie Louise! Also los, lass es raus.«
Hannahs Gesichtsausdruck erinnerte mich an Michel Friedman. Wenn du nur einen einzigen Fehler machst, Junge, dann krieg ich dich bei den Eiern.
Gabor fand den Kommentar meiner Mutter sichtlich daneben und ließ das Rühren sein. »Alfred hat mir erzählt«, sagte er, und seine Stimme war schrill und zitterte sogar etwas, »dass die Sache mit Joschis Judentum erfunden war. Er war zwar mit Jüdinnen verheiratet gewesen und hatte Kinder mit ihnen, und die Sache mit Auschwitz dürfte auch passiert sein, aber Joschi selbst war gar kein Jude. Das hatten er und Louise sich ausgedacht, damit Joschi wenigstens ein bisschen Entschädigung vom deutschen Staat bekommen würde.«
»Wie originell«, sagte Hannah. Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. »Ist Alfred das auf dem Sterbebett wieder eingefallen, und er hat ’s dir schnell noch gesagt, damit wenigstens einer die Wahrheit kennt?«
»Nein, nicht auf dem Sterbebett.« Gabors Löffel begann wieder gegen die Tassenwand zu klappern. »Jedenfalls nicht auf seinem. Es war kurz nach Joschis Tod.«
»Was genau hat er gesagt?«, fragte meine Mutter.
»Es ging um Joschis Beerdigung. Alfred sagte, dass dieser Sauhund es geschafft hätte, sich auch noch auf einem jüdischen Friedhof begraben zu lassen, wäre ja wohl der Gipfel der Unverfrorenheit.«
Meine Mutter begann leise zu kichern. Hannah warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Als ich ihn fragte, was er damit meinte, sagte Alfred, dass Joschis jüdische Biografie erstunken und erlogen gewesen sei. In Wirklichkeit wäre Joschi ein kleiner ungarischer Gewerkschafter gewesen, der sein großes Maul nicht halten konnte und der überdies mit einer Jüdin verheiratet gewesen war, was ihm ein paar Monate Zwangsarbeit beschert hatte. Traurige Geschichte, ja, aber nicht groß genug, um dafür eine Entschädigung zu fordern. Also machten sie Joschi zum Juden. Muss ja nicht allzu schwer gewesen sein, schließlich waren alle Zeugen tot.«
»Und was hat Louise zu Alfreds Enthüllung gesagt?«, wollte meine Mutter wissen.
»Louise?«, erwiderte Gabor. »Louise war gar nicht dabei, und ich habe auch später nie mit ihr darüber geredet. Sie hätte sowieso alles abgestritten.«
»Sag mal, du glaubst diesen Mist doch nicht im Ernst, oder?« Hannah wurde allmählich ungehalten.
»Warum denn nicht?« Auf Gabors Gesicht wuchsen rote Flecken. »Beweis mir doch bitte mal das Gegenteil! Gibt es eine Geburtsurkunde von Joschi? Nein. Gibt es irgendwelche Dokumente außer seinen eigenen Angaben? Nein. Es gibt nur einen Haufen beschissener Mythen, die von seinen Frauen verbreitet wurden. Und von seinen Töchtern, wenn ich das noch hinzufügen darf.«
Hannah hatte sich aufgerichtet wie eine Kobra vor dem entscheidenden Angriff. Bevor sie zustoßen konnte, sagte meine Mutter: »Ich musste vorhin lachen, weil ich an das Gespräch mit dem Rabbiner denken musste, am Tag von Joschis Beerdigung. Lotte war ja immer der festen Überzeugung gewesen, dass Joschi Halbjude war …«
»Halbjude ist ein verdammtes Naziwort«, zischte Hannah dazwischen.
»Okay. Also, Joschi hatte ihr jedenfalls immer erzählt, sein Vater wäre Jude gewesen und seine Mutter nicht. Weder Lotte noch
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