Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
umgekommen.«
»Aber sein Bruder hat manchmal bei uns angerufen«, sagte meine Mutter.
»Siehst du«, sagte Gabor.
Hannah ließ ihre Tasse auf den Tisch donnern. »Das ist doch alles Schnee von gestern«, rief sie. »Natürlich hat er gelogen, dass sich die Balken biegen. Jede seiner Frauen hat eine andere Biografie von ihm bekommen, nämlich die, die gerade am besten zu ihr passte. Jede seiner Frauen hat daraus ihre eigene Geschichte gebastelt und uns mit auf den Weg gegeben. Wer will es ihm denn übel nehmen, dass er nie wieder über diese grauenhafte Vergangenheit reden wollte?«
»Ich«, sagte meine Mutter. »Ich habe es ihm übel genommen. Sehr sogar. Besonders nach seinem Tod. Dein Vater stirbt, du bist gerade mal achtzehn, und du weißt nichts von ihm, nichts, nichts, nichts.«
»Dabei bist du die Einzige von uns, die jahrelang direkt an der Quelle gelebt hat, also beklag dich nicht«, sagte Hannah. »Vielleicht lag es ja an deiner Fragetechnik.«
»Ich hatte überhaupt keine Fragetechnik. Ich habe gar nicht erst gefragt.«
»Und was hat dich veranlasst, an Joschis jüdischer Herkunft zu zweifeln?« Gabor ließ nicht locker.
Meine Mutter dachte nach. »Einen konkreten Anlass dafür gab es nie«, sagte sie. »Zweifel kamen mir immer dann, wenn ich merkte, dass ich mich wieder mal allzu sentimental oder selbstgerecht mit meinen jüdischen Wurzeln identifizierte, während ich Joschi-Geschichten erzählte. Dann dachte ich immer, Mensch, du weißt es doch überhaupt nicht wirklich. Er hat bei so vielen Dingen gelogen, warum nicht auch hier?«
»Weil man sich so etwas einfach nicht ausdenkt«, sagte Hannah. »Weil es so grenzenlos zynisch wäre, nach solch einer Tragödie auf diesen Zug aufzuspringen, nur um sich ein paar finanzielle Vorteile zu verschaffen. Ich traue ihm das nicht zu. Ihr etwa?«
Gabor sagte nichts. Meine Mutter sagte: »Nein. Ich finde es in Ordnung, darüber zu spekulieren, aber ich traue es ihm nicht zu.«
»Na, da bin ich aber beruhigt«, erwiderte Hannah. Gabors Schweigen ignorierte sie.
»Was ich bis heute trotzdem nicht verstehe«, sagte meine Mutter, »das ist sein komisches Verdrängungsmuster. Nichts von Joschi will so richtig zu dem passen, was ich über traumatisierte NS-Opfer weiß. Manche ließ dieses Thema nie wieder los, so wie Bellas Mann aus Buchenwald. Ich kannte mal einen, dessen Vater Künstler war und Auschwitz überlebt hatte. Der hat danach nur noch Auschwitz-Bilder gemalt, eines nach dem anderen. Ich hab damals in meiner Naivität zu dem Sohn gesagt, dass ich ihn darum beneide, wie offen in seiner Familie mit diesem Thema umgegangen wurde. Er hat mich entsetzt gefragt, ob ich eigentlich noch ganz bei Trost wäre.« Meine Mutter gab Anni ein Zeichen, das bedeuten sollte, dass ihr nach einem weiteren Milchkaffee zumute war. »Aber die meisten Überlebenden haben lieber geschwiegen. Und Joschi hat es aus irgendwelchen Gründen vorgezogen, sein Schweigen mit hanebüchenen Geschichten zu – ja, was? Dekorieren? Verbergen? Ich nehme an, Louise kannte sich noch am besten mit seiner echten Biografie aus. Hannahs Mutter hat danach die Waisenkind-Version serviert bekommen, und meine kriegte nur noch den halben Juden. Danach war offenbar endgültig Schluss mit Reden. Mit seinen Kindern hat er gar nicht erst angefangen.«
»Vielleicht wollte er euch ja beschützen«, sagte ich.
»Komisch, so was Ähnliches hat Lotte mir auch mal gesagt«, antwortete meine Mutter. »Das war, nachdem Hannah auftauchte und die ganze Geschichte ins Rollen kam. Ich wollte von ihr wissen, warum mir keiner etwas davon gesagt hatte, dass Joschi Jude und im KZ gewesen war. Daraufhin sagte meine Mutter, sie hätten mich beschützen wollen. Nach dem Motto: Je weniger das Kind weiß, umso besser. Ich fand es damals schon völlig bescheuert.«
»Warum?«, fragte ich.
»Weil Unwissenheit niemals schützt. Das hätte Joschi am besten wissen müssen. Und wenn Unwissenheit das Ziel war, wieso hingen dann die Fotos von Véra und Tamás bei uns an der Wand, seit ich mich erinnern kann?«
»Wie? Er hatte sie sogar bei euch zuhause aufgehängt?«, fragte Hannah ungläubig. »Ich dachte immer, du hättest sie in irgendeinem Schrank gefunden und nicht gewusst, wer sie waren.«
»Sie waren von Anfang an da, die kleine Véra und der kleine Tamás«, sagte meine Mutter. »So arm, so tot. Und ich sag euch, ich konnte sie nicht ausstehen, die beiden.«
10
NATÜRLICH KENNE ICH DIE BILDER von Véra und Tamás.
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