Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Erinnerung, Gabor«, sagte Hannah. »Wo hast du dich eigentlich rumgetrieben, als Joschi beerdigt wurde? Wir hätten so schön zusammen auf der vordersten Bank in der Friedhofskapelle sitzen können, wir drei. Weil du nicht da warst, habe ich mich lieber ganz nach hinten verzogen, um Lottes Nerven zu schonen. Ich wäre auch hinten geblieben, wenn diese Punklady nicht so ein Theater gemacht hätte. Kein Wunder, dass der Rabbi sich nicht mehr an seinen Text erinnern konnte.«
»Ich war im Urlaub«, sagte Gabor. »In Jugoslawien«, fügte er hinzu, als würde das alles erklären.
Wir saßen noch eine Weile da, ohne etwas zu sagen, und dann stand meine Mutter auf und machte sich auf die Suche nach Anni, um zu bezahlen, während Hannah mit leuchtenden Augen die Liste der entgangenen Anrufe auf ihrem Handy studierte. Gabor massierte wieder seine Finger, und ich dachte, dass er es einem wirklich leicht machte, ihn seltsam zu finden, und dass ich ihn trotzdem irgendwie mochte.
»Ich würde gern noch eine Sache von dir wissen, wenn es nicht zu indiskret ist«, sagte er plötzlich zu Hannah. »Hast du Joschi geliebt? Ich meine so als Vater – hast du ihn geliebt?«
Meine Mutter war zurückgekehrt und blieb regungslos hinter ihrem Stuhl stehen, und ich bildete mir ein, dass sie den Atem anhielt.
Hannah wirkte überrumpelt. Sie klappte ihr Telefon zusammen und suchte sehr lange in ihrer Handtasche nach einem geeigneten Platz dafür, bevor sie sagte: »Nein, leider nicht. War niemand da. Ich habe ihn jedenfalls nie erreicht.«
Ich wusste, dass sie nicht vom Telefonieren sprach, aber ich konnte nicht umhin, Hannah vor mir zu sehen, wie sie vor einem dieser altmodischen Apparate mit Wählscheibe sitzt und immer wieder versucht, Joschi zu erreichen. Dann erinnerte ich mich, dass es vor vielen Jahren tatsächlich eine ähnliche Szene gegeben hatte. Ich musste mir nur noch meine Mutter dazudenken, wie sie von einem anderen Telefon aus Joschis Nummer wählt, und dann noch ein drittes Telefon, das fortwährend klingelt. Es steht auf einem kleinen Tisch neben der Garderobe im Flur, an dessen Wänden die gleiche scheußliche Tapete im Siebzigerjahre-Design hängt wie im Wohnzimmer. Auf der Ablage vor dem Spiegel liegen eine schlichte schwarze Kippa und eine schöne weiße, die mit Silberfäden bestickt ist. Das Telefon hört nicht auf zu klingeln. Es klingelt fast den ganzen Tag lang, bis der alarmierte Hausmeister schließlich die Wohnungstür mit einem Zweitschlüssel öffnet. Da liegt Joschi, höchstens noch einen Meter vom Telefon entfernt.
11
DIE WENIGEN KILOMETER bis nach Weimar legten wir schweigend zurück. Ich saß hinten neben einem Gabor, der sich wieder komplett nach innen gestülpt hatte, und haderte mit der Sitzordnung. Falls es an diesem Wochenende noch einen weiteren Ausflug zu viert geben sollte, würde ich darauf bestehen, Gabor gegen meine Mutter auszutauschen, aber auf den Vordersitzen ging es diesmal auch nicht viel geselliger zu. Vielleicht lag es daran, dass sie über die Liebe gesprochen hatten. Oder über die Nichtliebe. Ich dachte an Jan.
Wir hielten an einer Fußgängerampel. Durch mein Fenster sah ich, wie eine dicke Frau einhändig einen tütenbehängten Buggy mit einem dicken Kleinkind an uns vorbeischob und mit der anderen Hand den Jungen schlug, der neben ihr herlief. Ich schätzte ihn auf etwa acht Jahre. Auch er hatte ziemliches Übergewicht. Wahrscheinlich waren die Einkaufstüten vollgestopft mit Tiefkühlpizza und Hamburger und Würstchen, und der Junge hatte gerade seiner Mutter erzählt, dass er seit heute Vegetarier wäre und nur noch gesunde Sachen essen wolle. Daraufhin war sie ausgerastet. Sie war ohnehin in letzter Zeit immer sehr gereizt, weil ihr Freund, der Vater ihres jüngsten Kindes, sie vorletzte Woche wegen einer Ernährungsberaterin verlassen hatte. Ich musste schon wieder an Jan denken. Wir fuhren weiter.
Als wir im Hotel ankamen, wiederholte sich die gleiche Szene wie bei unserer gestrigen Ankunft: Ein Treffpunkt für den Abend wurde ausgemacht (acht Uhr in der Eingangshalle), und dann flohen alle in ihre Zimmer. Weil sich heute niemand mehr die Mühe machte, seinen Grund für den Rückzug zu nennen, ging es sogar noch schneller als gestern. Ich fuhr mit meiner Mutter im Fahrstuhl nach oben und merkte, dass sie allein sein wollte. Das Alleinseinwollen stand wie üblich in Leuchtschrift auf ihrer Stirn, aber sie glaubt immer noch, ich würde es nicht merken, und jedes Mal
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