Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
ist sie überrascht und erfreut von so viel Übereinstimmung zwischen uns, wenn ich ihr dann sage, ich wolle noch mal los. Das Ritual verlangt, dass sie sich dann ein bisschen besorgt nach meinen Plänen erkundigt, während der Rest von ihr sich kaum noch halten kann vor Sehnsucht. Diesmal war es, glaube ich, die Sehnsucht nach einem langen, stillen Tauchgang in der Badewanne. Ich nahm mir vor, so lange wie möglich wegzubleiben.
Weil mir nichts Besseres einfiel, ging ich in Richtung Fußgängerzone und sah mich dort als Erstes nach dem Mann mit der Bratpfanne und dem Hund um, aber ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Es war ein freundlicher und relativ warmer Nachmittag geworden. Die meisten Stühle der Straßencafés waren wieder besetzt, aber mein Bedürfnis nach Kaffee war für diesen Tag mehr als erfüllt. Ich wollte lieber einen Park finden, am besten mit einer Parkbank ganz für mich allein. Und ich hatte Glück: Zwei Straßenecken weiter entdeckte ich einen kleinen Kinderspielplatz mit Sandkasten, Rutsche und Schaukel, bewacht von einer großen, offenbar schwer erkrankten und fast kahlen Kastanie. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste sie sofort Goethe-Kastanie nennen. Und selbstverständlich stand da auch die Bank in der milden Oktobersonne, die ich mir gewünscht hatte. Perfekt. Aber nur fast. Auf der Bank saßen zwei alte Leute, ein Mann und eine Frau, die fast vollständig hinter ihren Zeitungen verschwanden. Auch ohne Zeitungen hätten keine drei Personen auf die Bank gepasst. Ansonsten war niemand zu sehen. Ich bedauerte mich ein bisschen und ließ mich dann auf dem Rand des Sandkastens nieder. So richtig wurde ich die Kinderrolle immer noch nicht los. Das Holz war nur noch ein kleines bisschen feucht.
Ich nahm mein Notizbuch aus dem Rucksack und beschloss, wenigstens ein gutes Kind zu sein und an meinen Aufzeichnungen zu arbeiten.
Genau, Archiv mit drei Ausrufezeichen. Eine Anfrage im Archiv könnte wahrscheinlich mit einem Schlag alles aufklären. József Molnár, geboren am 19 . Oktober 1908 ? Warten Sie mal, hier haben wir ihn. Ungarischer Jude, eingeliefert im September 1943 . Oder: József Molnár? Nein, diesen Namen können wir in unseren Unterlagen nicht finden. Oder: Ja, József Molnár ist hier als politischer Gefangener aufgeführt. Gewerkschaftsmitglied, katholisch. Ich war mir nicht sicher, ob ich bei der letzten Variante in Hannahs Nähe sein wollte, wenn sie es erfuhr.
Wieso war dieser wichtige Teil von Joschis Vergangenheit eigentlich immer noch ungeklärt? Das war so typisch an unserer Familiengeschichte: Alle gingen von irgendwelchen Annahmen aus, aber wirklich wissen wollte es offenbar keiner. Meine Mutter und Hannah hatten sich auf eine Version geeinigt und lebten auf unterschiedliche Weise mit ihr, aber jetzt kam Gabor daher, der Spielzeugtester, und auf einmal drohte alles wieder zu kippen. Eigentlich hatte er nichts weiter getan, als ein kleines bisschen an ihren Geschichten herumzurütteln. Jeder Teddybär im Labor hätte das wahrscheinlich locker weggesteckt, aber Hannah schien es ziemlich erschüttert zu haben. Als ob nicht ohnehin alles schon kompliziert genug wäre.
Ich blieb bei meiner bisherigen Arbeitshypothese, dass mein Großvater Jude war. Mir kam der Gedanke, mein Referat mit ein paar gefakten Zeilen aus Buchenwald beginnen zu lassen, die er von dort aus an seine Familie geschrieben hatte, aber dann fiel mir ein, dass mein Großvater sicher gewusst hatte, was mit seiner Frau in Ungarn geschehen war, und seine anderen Frauen kannte er noch gar nicht. Es war sowieso eine Scheißidee. Ich sah mir noch einmal den Plan vom Lager an und zeichnete die Route ein, die ich heute gegangen war. Ich blätterte unschlüssig in der Broschüre und wartete auf eine Eingebung. Ich harkte mit einem Stöckchen ein wirres Muster in den Sand und fühlte mich miserabel. Als ich mich gerade ernsthaft fragte, ob ich nicht selber eine geborene Lügnerin war, klingelte mein Telefon.
Es war Jan. Ich sah seine Nummer auf dem Display und tat als Erstes, was er mir selber für alle Krisensituationen empfohlen hatte: atmen. Der Klingelton schwoll an. Ich sah zu dem Paar auf der Bank. Sie rührten sich nicht. Nicht einmal das Zeitungspapier bewegte sich. Vielleicht waren sie eine Skulptur, und ich war darauf hereingefallen.
Ich räusperte mich und nahm das Handy. »Hallo«, sagte ich.
»Hey«, sagte Jan. »Wo bist du? Kannst du reden? Ich ruf sonst später noch mal an.«
Bloß nicht
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