Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
später. Später konnte bedeuten, mitten in einer hitzigen Debatte zwischen Gabor und Hannah rauslaufen zu müssen, oder schlimmer noch, bei der Rückkehr dieser vielsagend hochgezogenen Augenbraue meiner Mutter ausgeliefert zu sein, die eine Geschichte forderte. Nein, wenn, dann jetzt. »Ich bin auf einem Spielplatz«, sagte ich. »Alle anderen Kinder sind schon über siebzig und haben ihr Hörgerät zuhause vergessen.«
Der Mann auf der Bank ließ seine Zeitung sinken und lächelte mich über den Rand hinweg freundlich an. Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Sehr witzig, Lily.
»Was hast du gesagt?«
»Ach, nichts«, sagte ich. Mir war noch nicht richtig nach Sterben zumute, aber viel fehlte nicht.
»Wie geht’s dir? Wie war es in Buchenwald?«
Mein Gott, ja, Buchenwald. Wie viele Geschichten passen eigentlich in einen ganzen Tag?
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Und Buchenwald war … eindrucksvoll.«
Weil er nicht gleich antwortete, schob ich noch »… und traurig« hinterher, aber genau in diesem Moment sagte Jan etwas, woraufhin wir gleichzeitig »wie bitte?« fragten, was mir beinahe den Rest gab. Ich wusste, dass es wieder passieren würde, sobald ich den Mund aufmachte, also schwieg ich und versuchte mich wieder auf meinen Atem zu konzentrieren und erstickte fast dabei.
»Und wie ist euer Familientreffen?«
»Super. Mein Onkel arbeitet in einem Testlabor für Spielzeugtiere. Er foltert sie. Aber auf diese Weise kann er kleine Kinder retten.«
Jan zögerte erst einen Moment, dann lachte er. »Klingt nach einem spannenden Onkel.«
Ich traute mich zum ersten Mal, wieder in Richtung Bank zu schauen. Der Mann hatte sich seitlich zu seiner Frau gebeugt, die auf eine Stelle in ihrer Zeitung tippte und ihn dabei erwartungsvoll ansah. Vielleicht lasen sie ja zusammen die Todesanzeigen. Karl, der zweite Mann von meiner Großmutter Lotte, hatte das auch wahnsinnig gern gemacht, obwohl er mir nie richtig hatte erklären können, was ihn daran so begeisterte. Ich konnte mir plötzlich gut vorstellen, mit Jan zusammen alt zu werden und jeden Nachmittag zum Zeitunglesen auf den Spielplatz zu gehen, was allerdings voraussetzte, dass wir überhaupt erst mal zusammenkamen. Wie überzeugt man einen Dreißigjährigen, dass vierzehn Jahre Altersunterschied eigentlich kein Thema sind? Ich sollte mal bei meinem Großvater nachfragen.
– Joschi, war es ein Problem, dass Hannahs und Marikas Mütter so viel jünger waren als du?
– War erst keine Problem, dann kleine Problem und dann sehr große Problem.
– Okay, ich nehme Antwort A.
»Hallo?«, fragte Jan. »Bist du noch da?«
»Ja«, sagte ich. »Es ist überhaupt eine sehr spannende Familie.«
»Das finde ich auch«, sagte Jan. »Sollen wir uns demnächst mal auf einen Kaffee treffen, und du erzählst mir mehr davon?«
Es klang nicht direkt wie ein Heiratsantrag, aber es gab mir neue Hoffnung.
»Klar«, sagte ich. »Wann?«
»Lass uns das nächste Woche in der Schule besprechen«, sagte Jan. Meine Hoffnung sank wie ein Soufflé in sich zusammen.
»Ja, dann bis dann«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Pass gut auf dich auf, Lily«, sagte Jan, diesmal mit seiner Referendarstimme.
Ich drückte auf den Knopf, und seine Nummer samt Gesprächszeit (3 Minuten 33 Sekunden) verschwand vom Display.
Also gut. Kein Grund zur Panik. Dieses Telefonat zählte sicherlich nicht zu den besten meines Lebens, aber immerhin hatte er mich angerufen, und das gehörte nicht zu seinen Aufgaben als angehender Lehrer in Politischer Weltkunde. Wenigstens war er feinfühlig genug gewesen, sich nicht nach dem Referat zu erkundigen, das ich so engagiert an mich gerissen hatte. Ich ging unser Gespräch noch einmal in Gedanken durch und ersetzte dabei meine Antworten durch bemerkenswerte Aussagen wie: »Und wie ist euer Familientreffen?« – »Super. Wir haben erst mal eine Stunde lang zusammen meditiert, bevor wir uns über die Auswirkungen des Holocaust auf die nachfolgenden Generationen unterhielten.« Ich machte es so lange, bis ich zu dem Ergebnis kam, dass eigentlich nichts dieses Gespräch hätte retten können. Das versöhnte mich wieder mit meinem eigenen Gestammel. Natürlich wusste ich, dass Referendare Ärger kriegten, wenn sie was mit einer Schülerin anfingen, dafür musste ich noch nicht einmal Buddhas fünf Silas kennen. Vielleicht stand Jan wegen religiöser Beeinflussung von Abhängigen sowieso schon mit einem Bein im Knast, weil er mich
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