Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
aus. Plötzlich war es stockfinster und still.
»Also, meine Damen, laut Plan haben wir jetzt zwei Möglichkeiten«, sagte Gabor. »Wir können uns nach rechts in die Büsche schlagen und darauf vertrauen, dass wir irgendwie durchkommen. Wenn wir einigermaßen die Richtung beibehalten, müssten wir nach ungefähr 500 Metern beim kleinen Lager sein.«
»Was war noch mal die zweite?«, fragte Hannah.
»Das ist die Nachtwanderung. Wir würden einen ziemlichen Umweg machen, aber dafür könnten wir die meiste Zeit den Weg benutzen, den ich gestern schon gegangen bin. Es hätte den Vorteil, dass ich mich wenigstens ein bisschen auskenne.«
»Ich bin für die Nachtwanderung«, sagte meine Mutter. In diesem Punkt waren wir uns alle einig. Auch darin, die Taschenlampe möglichst wenig einzusetzen, unseren Plan selbst dann zu Ende zu führen, wenn es anstrengend oder riskant wurde (mein Wunsch), sowie keinerlei individuelle Extratouren zu unternehmen (ein Wunsch meiner Mutter, wahrscheinlich auf mich bezogen). Wir vergewisserten uns, dass man unser Auto von der Straße aus nicht zufällig entdecken konnte. Und dann zogen wir los, ein seltsamer Festzug, der sich immer am Waldrand entlangbewegte: an der Spitze Gabor, der das Laternenpaket trug und dessen Fährte man notfalls auch anhand des Zigarettenrauchs hätte folgen können, danach ich mit Edgars Blumenstrauß, hinter mir Hannah mit der Sektflasche und als Letzte meine Mutter mit der Aufgabe, den Gesamtüberblick zu behalten. Ich war enttäuscht, wie wenig Licht so ein bleicher Mond produzierte, aber zumindest waren wir in dieser Finsternis besser vor einer Entdeckung geschützt. Wir stolperten über Äste und traten in Pfützen, aber niemand beschwerte sich. Zwei Autos tauchten auf der Landstraße auf und verschwanden wieder, während wir im Gänsemarsch etwa dreihundert Meter zurücklegten, bis wir die Stelle erreichten, an der Gabor schon am Vortag gestanden hatte.
»Und jetzt?«, fragte meine Mutter.
»Erst mal nach links und dann wieder rechts«, sagte Gabor. »Das hier ist der Postenweg, der um das gesamte Lagergelände herumführt. Wir gehen jetzt die ganze Zeit am alten Grenzzaun entlang.«
Unser Weg war inzwischen nicht mehr von der Straße einsehbar, also konnte ich ab und zu die Taschenlampe einschalten. In regelmäßigen Abständen ragten auf der rechten Seite Betonpfosten aus dem Boden. Sie befanden sich in unterschiedlichen Stadien der Auflösung. Manche von ihnen sahen noch völlig intakt aus, andere waren verrottet zusammengesunken, und ihre rostigen Eingeweide standen wie Sprungfedern heraus. Stacheldraht konnte ich nirgendwo entdecken.
»Es ist gruselig hier«, sagte meine Mutter. »Ich bilde mir immer ein, dass die vielen Toten und das ganze Elend trotz allem nur Frieden hinterlassen haben. Aber was noch überall in der Luft hängt, ist diese unfassbare Niedertracht.«
»Dann kommt Lily mit ihren Himmelslaternen ja gerade recht«, erwiderte Gabor. Fast hätte ich ihn umarmt dafür. Ich tat es in Gedanken und konzentrierte mich dann wieder auf das Zählen meiner Schritte zwischen den Pfosten: Manchmal waren es sechs, manchmal sieben. Es erstaunte mich ein wenig, dass deutsche KZ-Bauherren es mit den Abständen nicht so genau genommen hatten.
»Seid mal still«, sagte Hannah plötzlich und blieb stehen. In der Ferne war ein Motorengeräusch zu hören. Es kam nicht von der Straße, die schon weit hinter uns lag. Es kam von rechts aus der Richtung des Lagers. Wir lauschten angestrengt, ob es sich näherte, aber nach einer Weile verstummte es wieder.
»Eigentlich beruhigend zu wissen, dass hier Wachleute unterwegs sind«, sagte Hannah.
»Hoffen wir mal, dass sie auch zwischen guten und bösen Eindringlingen unterscheiden können«, sagte meine Mutter. »Euch ist hoffentlich klar, dass sie uns garantiert entdecken werden, oder?«
»Aber erst wenn wir fertig sind«, sagte ich. Mir war kalt, ich war müde, aber ich fühlte mich großartig. Ich wollte Zuversicht und Entschlossenheit verbreiten und sonst gar nichts. Das Ende meiner Kindheit begann mir immer besser zu gefallen. Dass es mit dem hundertsten Geburtstag meines Großvaters zusammenfiel, fand ich ausgesprochen praktisch, falls mich später mal jemand danach fragen sollte.
Wir setzten unseren Marsch fort. Etwa zehn Minuten später erreichten wir ein Stück offenes Gelände, umgeben von einem Zaun aus Maschendraht. Im Inneren befanden sich mehrere kleine Backsteingebäude, die durch
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