Ein Fall zu viel
Fenster und blickte hinaus. Was sie sah, gefiel ihr nicht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein schwarzes Auto. Sie hatte es hier noch nie zuvor gesehen. Ein Lieferwagen! Zu dieser späten Stunde. Kein Geschäft weit und breit. Was hatte das zu bedeuten? Ihre Gedanken überschlugen sich, ebenso ihr Atem.
Mit einem Mal war sie sicher, was das Auto zu bedeuten hatte. Doch was sollte sie nur tun? Abwarten wie die Maus in der Falle? Nein, sie musste so schnell wie möglich hier raus, aber nicht ohne einen Hilferuf zu hinterlassen. Sie eilte zum Wohnzimmerschrank, öffnete eine Schublade und zog einen Block samt Bleistift hervor. Als ihre Finger über das Blatt fuhren, schienen sie ihr kaum zu gehorchen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie die Buchstaben endlich zu Papier gebracht hatte. »Hilfe, ich werde bedroht!« Das musste reichen. Jetzt fehlten nur noch Datum, Uhrzeit und natürlich ihre Unterschrift.
Sie überlegte, wo sie den Zettel deponieren sollte. Auf keinen Fall durfte er offen in der Wohnung liegen. Die Gefahr, dass er in falsche Hände geriet, war einfach zu groß, ebenso, wenn sie ihn am Körper trug. Während sie das Blatt ruckartig vom Block riss, hatte sie plötzlich eine Idee. Sie würde die Botschaft in ihrem Briefkasten verstecken. Sollte ihr etwas zustoßen … Sie wollte diesen Gedanken lieber nicht zu Ende denken.
Mit klopfendem Herzen riskierte sie einen weiteren Blick aus dem Fenster. Der Wagen war unbeleuchtet, im Innern kein Mensch zu sehen. Saß wirklich niemand mehr in dem Fahrzeug? Befanden sich die Insassen etwa schon in ihrem Haus? Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, ihre Kehle war wie von einer unsichtbaren Hand zugeschnürt. Inzwischen war sie ganz sicher, sie musste hier raus. Auf unsicheren Beinen wankte sie durch das Zimmer. In der Diele blieb sie kurz stehen und sah die Treppenstufen hinauf bis zur ersten Etage. Dort brannte kein Licht. Dabei erinnerte sie sich, die Lampe eingeschaltet zu haben. Eigentlich hatte sie sich direkt nach der Arbeit ihren Freizeitanzug anziehen wollen.
Christiane Altenkämper starrte wie gebannt nach oben und wagte kaum zu atmen. Als befürchte sie, ihr Atem könne Geister wieder zum Leben erwecken, die sie doch lieber endgültig tot wissen wollte. Für einen kurzen Moment verharrte sie, ihren Blick ängstlich auf die erste Etage gerichtet, dann schlich sie auf Zehenspitzen zur Haustür. Leise öffnete sie den Briefkasten von innen und legte den Zettel hinein. Ebenso geräuschlos verschloss sie ihn wieder. Jetzt musste sie schnellstens hier raus.
Sie hatte gerade die Klinke in der Hand, als sie oben einen Schatten wahrnahm. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr, dann riss sie die Haustür auf und hetzte nach draußen. Die Straße war menschenleer. Der Lieferwagen stand noch dort. Für einen kurzen Moment erwog sie, bei einem der Nachbarn zu klingeln, aber sie verwarf diese Überlegung. Wie konnte sie sicher sein, dass ihre Verfolger nicht schneller reagierten? Womöglich brachte sie zusätzlich andere in Gefahr. Nein, sie musste einfach so schnell wie möglich verschwinden. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, rannte sie los.
Automatisch schlug sie die Richtung zur Mülheimer Straße ein, ohne bestimmtes Ziel. Nur fort von hier. Warum nur hatte sie die unbequemen Pumps nicht gegen ihre bequemen Hausschuhe ausgetauscht? Weil sie ihre fortschreitende Erkrankung nicht wahrhaben wollte? Ängstlich blickte sie nach hinten. Ihr Atem stockte. Obwohl sie es eigentlich erwartet hatte, war sie erschüttert: Eine dunkel gekleidete Gestalt verfolgte sie, lief direkt auf sie zu. Für einen Moment fühlte sie sich wie gelähmt, dann rannte sie weiter. Dabei hatte sie das Gefühl, unter ihren Schritten öffnete sich der Boden und ihre Füße würden im Asphalt versinken. Nach einer Weile schaute sie erneut voller Furcht nach hinten. Der Verfolger hatte aufgeholt. Sicher war er viel jünger als sie, durchtrainiert, ohne Arthrose. Es war eher unwahrscheinlich, ihm zu entkommen.
Am liebsten hätte sie sich an den Straßenrand gesetzt und geweint, aber dann war die Angst doch noch größer als die Resignation. Atemlos stolperte sie weiter. Bald hatte sie es zur vierspurigen Mülheimer Straße geschafft. Ihr Schicksal hing nun vom Autoverkehr ab. Sofern sie freie Bahn hätte und ihr Verfolger warten müsste, würde sie Zeit gewinnen und gegenüber im Hinterhof einer Seitenstraße untertauchen können. Andernfalls hätte sie
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