Ein Fall zu viel
Instinktiv trat sie einen Schritt zurück. Diese bedrückende Dunkelheit kannte sie hier nicht. Allerdings hatte sie sich auch noch nie so spät in der Universität herumgetrieben. Laut hörte sie ihr Herz pochen. Sie schob die Bürotür soweit wie möglich nach hinten, um von dem Licht im Inneren zu profitieren. In ihrer unmittelbaren Umgebung konnte sie jedoch keinen Schalter erkennen.
Unschlüssig starrte sie eine Weile den langen schwarzen Gang entlang. Das leise Grummeln in ihrem Magen verstärkte sich. Wenn sich der Lichtschalter nun am anderen Ende befand? Plötzlich kicherte sie. Dieses ungute Gefühl in der Magengegend hatte wirklich nichts zu bedeuten. Sie würde die Bürotür einfach offen lassen und sich notfalls an der Wand entlang tasten. Zögernd trat sie in den Flur und lief ein Stück in Richtung Treppenaufgang. Mit einem Mal wurde es hell. Jennifer Langenfeld stieß die Luft aus, die sie unwillkürlich angehalten hatte. An einen Bewegungsmelder hatte sie bisher nicht gedacht. Erleichtert kehrte sie zum Büro zurück und schloss die Tür von außen ab.
Dann hörte sie ein Geräusch. Ihr Puls beschleunigte sich erneut. Während sie angespannt lauschte, klirrte der Schlüsselbund leise in ihrer Hand. Am liebsten hätte sie sich im Büro eingeschlossen, aber sie konnte unmöglich dort die ganze Nacht verbringen, nur weil sie in dieser Situation wie ein Kleinkind reagierte. Sie atmete mehrmals heftig aus, dann setzte sie sich in Bewegung. Mit schnellen Schritten näherte sie sich dem Treppenaufgang. Ein Tropfen Schweiß perlte von ihrer hohen Stirn. Sie erreichte den Aufzug, den sie aber auf keinen Fall benutzen wollte. Seit sie einmal steckengeblieben war, hatte sie Angst vor der Enge. Sie warf einen Blick auf die Anzeigentafel. Das Blut pochte hinter ihren Schläfen.
Offensichtlich bewegte sich der Lift nach oben, womöglich zu ihrer Etage. Ihre Knie zitterten heftig. Der Aufzug hielt ein Stockwerk unter ihr. Damit war der Fluchtweg versperrt. Sie verspürte den Wunsch, zum Büro zurückzulaufen, aber dann besann sie sich. Wenn um diese Zeit jemand in dem Gebäude war, bedeutete das nicht automatisch eine Gefahr. Es gab viele Wissenschaftler, die hier abends noch arbeiteten. Das war durchaus nicht ungewöhnlich. Sei nicht paranoid, schalt sie sich und lief weiter in Richtung Ausgang. Es existierte keine reale Bedrohung, nur eine seltsame Reaktion ihres Körpers. Vorsichtig stieg sie die ersten Treppenstufen hinunter. Nur noch wenige Meter, dann hatte sie die Etage erreicht, auf der der Lift gehalten hatte.
Plötzlich sprang ein Mann aus dem Gang auf den Treppenabsatz. Sein Blick wirkte wirr. In seiner Rechten blitzte ein Taschenmesser. Ein spitzer Schrei entfuhr ihrer Kehle. Sie musste handeln, aber für einen Moment war sie unfähig, sich zu rühren oder einen klaren Gedanken zu fassen.
»Nicht mit mir«, schrie er unerwartet los. »Das macht ihr nicht mit mir. Ich werde mich wehren.«
»Sie müssen mich verwechseln«, hörte sich Jennifer zu ihrer Überraschung sagen. »Ich kenne Sie nicht.«
»Du falsche Schlange«, zischte er und lief auf sie zu.
Hilfe schreiend rannte sie die Treppe wieder hinauf.
Schnell hatte er sie eingeholt und hielt sie fest. Sie wollte um sich schlagen, doch ehe sie ihn treffen konnte, stach er das Messer in ihren Arm. Sie schrie, hörte nicht mehr auf zu schreien. Eher aus Angst. Der Schmerz setzte erst später ein. Während sich ihre Stimme zu überschlagen schien, sickerte Blut aus der Wunde. Mit seltsamem Blick starrte der Mann auf den wachsenden roten Fleck auf ihrer Jacke. Er stieß einen Laut aus, der sehr unmenschlich klang, dann flüchtete er wie gehetzt die Treppe hinunter.
30. Kapitel
»Ich habe dem Klinikum noch nie so gerne einen Besuch abgestattet wie heute«, erklärte Barnowski, während er neben Pielkötter die Treppenstufen zum Haupteingang hinauflief.
»Wieso?«
»Nun ja, die Rechtsmedizin ist nicht gerade weit von hier, und ich schaue mir diese Jennifer Langenfeld lieber am Krankenbett als auf dem Seziertisch an.«
»Aha«, brummte Pielkötter. Ihn erinnerte das Krankenhaus zu sehr an seinen Vater. Eine seiner Sorgen. Er wünschte sich weit weg.
»Womöglich ist die Dame aber ganz nah daran vorbeigeschrammt, in Tiefenbachs Kühlfach zu landen.«
»Wir werden sehen.« Pielkötter war nicht nach Konversation.
Inzwischen hatten sie den Empfang erreicht, doch die Angestellte an der Annahme telefonierte und stellte zumindest Pielkötter auf
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