Ein Fall zu viel
er fast die Abfahrt direkt hinter dem Rhein verpasst. Ein grüner Pfeil auf der Ampel zeigte Grün für die Rechtsabbieger. Wie viel Positives hätte man noch von der ehemaligen DDR übernehmen können, überlegte er. Aber das war heute nicht sein Thema. Leider. All sein Denken und auch Fühlen war im Moment auf Verlust gerichtet. Er würde entweder auf Marianne oder auf Katharina für immer verzichten müssen, darin machte er sich absolut nichts vor. Und dann war da noch sein Vater.
Pielkötter bog dreimal rechts ab, dann war er auf der kleinen Stichstraße angelangt, die direkt zum Restaurant Rheinblick führte. Auf dem Parkplatz gegenüber herrschte um diese Zeit kein Betrieb, vor allem nicht bei dem trüben Wetter. Mit einem Blick erfasste Pielkötter, dass Katharinas Wagen noch nicht hier stand. Oder war sie trotz der dunklen Wolken zu Fuß gekommen? Von ihrer Wohnung bis hier war es nicht weit. Unwillkürlich seufzte er bei diesem Gedanken. Wenn es nach Katharina gegangen wäre, hätten sie sich dort getroffen. Natürlich hatte er das auch gewollt. Er sehnte sich nach ihr, nach ihrer Haut, nach ihrem Körper, aber durfte deshalb gleich der Verstand aussetzen? Oder jedes Verantwortungsgefühl? Musste er nicht wenigstens so fair gegenüber Marianne sein, die kurze Frist abzuwarten? Er seufzte erneut. Um Himmels willen, bestand sein Leben denn jetzt nur noch aus Fragen? Mit denen beschäftigte er sich doch im Beruf wahrlich genug.
Nachdem er den Wagen auf dem fast leeren Parkplatz abgestellt hatte, lief er die wenigen Meter bis zum Leinpfad direkt am Rhein. In melancholischer Stimmung blickte er über den breiten Strom. Die grünen Wiesen, die Industrieanlagen auf der gegenüberliegenden Seite, das alles hätte ihn an einem anderen Tag fasziniert, genauer gesagt, vor Mariannes Vertrauens- und seinem Ehebruch. Pielkötter erschrak. So deutlich hatte er das in seinen Gedanken noch nie formuliert.
Zwei Schubschiffe fuhren flussabwärts, hatten es eilig, aus seinem Blickfeld zu verschwinden. Warum konnte das nicht auch für seine Probleme gelten, fragte er sich unwillkürlich. Eine Weile sah er ihnen nach. Plötzlich wandte er sich um, als hätte er Blicke hinter seinem Rücken gespürt. In gut zwanzig Metern Entfernung erkannte er Katharina. Der eng anliegende, dünne Mantel umspielte ihre schlanke Figur. Obwohl er sie erwartet hatte, starrte er sie an, als sei sie eine Fata Morgana. Während er sich ihr näherte, zog er den Bauch ein. Dabei hatte er sich in der letzten Zeit fast nur von Kaffee ernährt. Nun ja, Wodka hatte natürlich Kalorien. Trotzdem hatte er einige Kilos abgenommen.
»Willibald«, begrüßte ihn Katharina mit ihrer unvergleichlich rauchigen Stimme. Bisher war ihm noch niemals aufgefallen, wie einzigartig der Klang war. »Hast du schon lange auf mich gewartet?«
Statt einer Antwort umarmte er sie, drückte ihr einen innigen Kuss auf die Stirn. »Katharina«, begann er und verstummte dann.
In ihren Gesichtszügen erkannte er plötzlich Unsicherheit.
»Ich freue mich so, dich wiederzusehen.«
»Umso mehr, weil du so lange damit gewartet hast?«, erwiderte sie.
Klang ihre Stimme nun leicht ironisch, oder bildete er sich das nur ein? »Lass uns ein Stück den Leinpfad entlangspazieren«, schlug er vor.
Eine Weile liefen sie stumm nebeneinanderher in Richtung Norden. Der Rhein führte im Moment viel Wasser, und der Weg drohte bei weiteren heftigen Regenfällen überspült zu werden. Plötzlich blieb Pielkötter abrupt stehen, wandte sich zu ihr und sah ihr direkt ins Gesicht.
»Katharina, du musst mich verstehen«, brachte er heiser hervor. »Ich stecke den Kopf wahrlich nicht in den Sand. Auch wenn mir das für eine Weile wirklich gut tun würde.« Er versuchte zu lachen, was aber alles andere als lustig klang. »Ich habe mit Marianne gesprochen.«
»Du hast es ihr schon gebeichtet?«
»Ja, natürlich«, erwiderte er. »Das bin ich euch beiden doch schuldig, oder?«
Katharinas Miene wirkte nicht gerade überzeugt.
»Marianne und ich haben uns auf eine Bedenkzeit von vierzehn Tagen geeinigt. Deshalb würde ich es sehr unfair finden, vorher mit dir …«
»Ins Bett zu steigen«, vollendete sie den Satz.
Der Klang ihrer Stimme missfiel ihm. »Wir sind über dreißig Jahre verheiratet«, verteidigte er sich. »Diese Bedenkzeit hat sie wirklich verdient, ich darf meinen Gefühlen nicht vorschnell nachgeben.«
»Und was war in der Nacht vor wenigen Tagen?«, fragte sie. »Wie darf ich das
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