Ein Fall zu viel
Leben, dachte er. Demnächst würde sogar wieder eine kleine Rate fällig. Na ja, so klein eigentlich nicht. Und er konnte das Geld gut gebrauchen. Schließlich hatte er ein hübsches Sümmchen in die Eigentumswohnung im neuen Universitätsviertel »Grüne Mitte Essen« gesteckt. Erstklassige Wohngegend nördlich des Hauptbahnhofs. Das hatte sogar ein Fachmagazin erkannt und dafür den Immobilienmanager Award 2013 vergeben. Kein Wunder, die Lage war einfach perfekt. Nähe zur City und zum Limbecker Platz, trotzdem Ruhe und ein künstlicher See in der schön gestalteten Außenanlage. Zudem befanden sich für Liebhaber des Horizontalen Gewerbes die sogenannten »Verrichtungsboxen« im Laufabstand. Inzwischen hatten die Stadtväter darin den ehemaligen Straßenstrich untergebracht, zumindest offiziell. Der Puff dagegen existierte wohl noch westlich der Segerothstraße. Das hatte er jedenfalls munkeln hören. Damit wohnte er zwischen Puff und Verrichtungsboxen.
Er grinste, doch urplötzlich erlosch jede Heiterkeit in seiner Miene. Unwillkürlich drängten sich Erlebnisse in sein Bewusstsein, die er lieber für immer vergessen hätte. Sein Studium hatte er sich als Strichjunge verdient. Wenigstens hatte er zu dieser Zeit Geld für Sex bekommen, in seiner Kindheit hatte es nichts dafür gegeben, höchstens Schläge. Zum Glück lagen beide Phasen seines Lebens lange hinter ihm. Seitdem hatte er sich geschworen, nie wieder arm und hilflos zu sein. Und wenn er in der jüngeren Vergangenheit einen Abstecher ins Rotlichtmilieu gewählt hatte, dann als Kunde in einem Edelpuff. Dafür jedoch hatte er nun Gina. Sie war auch in sexueller Hinsicht einfach genial. Dabei hätte er sich inzwischen alle Extras leisten können, nicht nur wegen der Raten der Firma. Seitdem er sich mit Gina am Arm auf etlichen Veranstaltungen der Stadt blicken ließ, zeigten sich die Banken von der großzügigen Seite. Obwohl er sich nicht viel aus kulturellen Highlights machte, besuchte er inzwischen gern die Philharmonie oder das Aalto-Theater.
Nach einem kleinen Fußmarsch hatte er seine Wohnung erreicht. Sie lag im Erdgeschoss und besaß einen hübschen Eckbalkon mit Blick auf den neu angelegten See. Fast bedauerte er es, sein Reich aufgeben zu müssen, wenn er erst mit Gina verheiratet wäre und in ihrer riesigen Villa im Essener Süden lebte. Nun, man würde sehen. Mit etwas Glück könnte er die Wohnung vielleicht zusätzlich halten. Das hing einfach von Ginas Großzügigkeit ab und natürlich von den Aufträgen der Firma.
29. Kapitel
Mit zufriedenem Lächeln auf den Lippen fuhr Jennifer Langenfeld den Computer im Vorzimmer von Prof. Dr. Claus Albrecht herunter. Endlich hatte sie die angehäuften Fehlstunden wieder abgebaut und die anstehenden Veröffentlichungen ihres Chefs Korrektur gelesen. Ihre eigene Masterarbeit hatte leider mehr Zeit in Anspruch genommen als geplant. Darunter hatte ihre Stelle als studentische Hilfskraft bei Prof. Dr. Albrecht einige Wochen gelitten. Normalerweise gab er ihr bei der Arbeitseinteilung freie Hand, aber die neusten Manuskripte mussten dringend für die Veröffentlichung vorbereitet werden.
Am liebsten hätte sie sich die Fahrzeit zur Duisburg-Essener-Uni gespart und die Seiten zu Hause durchgesehen, aber ihr Chef hatte darauf bestanden, dass sie ins Büro an der Lotharstraße kam. Er gab die Unterlagen nicht gern heraus, erst recht nicht per Mail. Als ob er eine Art Staatsgeheimnis hüten wollte. Dabei konnte sie sich kaum vorstellen, wer sich seine Studien über das »Konsumverhalten von Studenten mit Migrationshintergrund in Abhängigkeit vom Studienfach« unter den Nagel reißen würde, um sie als die eigenen auszugeben. Nach Jennifers Einschätzung hatte der gute Mann in dieser Beziehung einfach einen Knall.
Sie seufzte. Immerhin hatte sie nun alles zu seiner Zufriedenheit erledigt, auch wenn es darüber sehr spät geworden war. Draußen hatte schon lange die Dunkelheit eingesetzt. Laut der Wanduhr war es 22.10 Uhr. Wahrscheinlich würde sich außer ihr niemand mehr im Gebäude aufhalten, und der Hausmeister hatte die Tür ins Freie bereits abgeschlossen. Für diesen Fall hatte ihr Prof. Dr. Albrecht kurzfristig seinen Schlüssel überlassen.
Jennifer Langenfeld versicherte sich noch einmal, dass sie den Computer ordnungsgemäß heruntergefahren hatte und zog ihre Jacke an. Nachdem sie ihre bunte Umhängetasche an sich genommen hatte, eilte sie zur Tür und öffnete sie. Der Flur war finster.
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