Ein Fall zu viel
er hat weiter an diesem Standort geforscht. Ich habe nicht die geringste Ahnung warum.«
»Und was machen Sie in Duisburg?«, hakte Barnowski nach. »Sie sind doch auch Chemiker, oder nicht?«
»Ja, schon.« Tender seufzte. »Für heute war hier eine Besprechung mit den Physikern angesetzt. Böhmer hat mir gestern Abend noch eine Mail geschrieben, vorher bei ihm vorbeizuschauen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings keine Ahnung warum.«
»Aber jetzt?«
»Nun, inzwischen nehme ich an, dass er so schnell wie möglich gefunden werden wollte«, erklärte Tender, ohne lange überlegen zu müssen. »Aus Kostengründen wird hier ja nicht mehr jeden Tag gereinigt. Und um studentische Hilfskräfte hat Böhmer sich auch nicht bemüht. Der typische Einzelgänger eben. Deshalb hätte sein Tod durchaus einige Tage unbemerkt bleiben können. Ich bin sicher, das wollte er nicht.«
»Und die Besprechung?«
»Abgesagt. Was glauben Sie, wie schnell sich Böhmers Tod herumgesprochen hat. Keiner von uns hat jetzt Lust zu dieser Sitzung, auch wenn wir nicht gerade einen guten Freund verloren haben. Für mich kommt noch hinzu, dass ich ihn gefunden habe. Der Anblick eines Toten … wie soll ich mich ausdrücken? Jedenfalls hat mich das alles sehr mitgenommen. Besonders, weil er keines natürlichen Todes gestorben ist.«
»Woher wollen Sie das so genau wissen?«, fragte Pielkötter hellhörig. »Ich habe bereits vorhin den Eindruck gehabt, Sie würden von einem Selbstmord ausgehen.«
»Ich habe den Abschiedsbrief gesehen«, erklärte Dr. Tender. »Zudem der Geruch. Das haben wir bereits in den ersten Semestern gelernt.«
»Und Sie haben auch die entsprechende Nase dafür? Den Geruch soll ja nicht jeder riechen können.«
»Exakt.«
»Sicher wissen Sie auch, wie Ihr Kollege an das Zyankali gekommen ist?« Pielkötters Ton wurde schärfer. Ob der gute Doktor ihn nervte?
Tender schaute Pielkötter geradewegs in die Augen. »Selbstverständlich. Er hat es sicher aus seinem Giftschrank genommen.«
»Wozu brauchen Sie überhaupt Zyankali?«
»Der Stoff wird beispielsweise für die Herstellung von Nitrilen benutzt.«
»Aha!« Barnowskis Bedarf an einer weiteren Ausführung war gedeckt.
»Noch einige kurze Fragen, dann verabschieden wir uns«, schaltete sich Pielkötter ein. »Hat sich Doktor Böhmer Feinde gemacht? Wissen Sie von privaten Schwierigkeiten?«
»Leider muss ich beides verneinen. Eigentlich weiß ich so gut wie nichts über ihn. Nur, dass er vorher in Berlin gearbeitet hat. Und er hat allein gewohnt. Das hat er mal erwähnt. Was anderes hätte ich aber auch nicht erwartet.«
»Haben Sie ihn einmal aggressiv erlebt? Oder können Sie sich vorstellen, dass er gewalttätig wird?«
Tender blickte sie fast ein wenig verzweifelt an. »Ich habe ihn immer als ausgesprochen friedfertig empfunden. Undenkbar, er könnte jemanden angreifen.«
Na na, du wirst den Abschiedsbrief doch wohl gelesen haben, den du gefunden hast, dachte Barnowski, während sich Pielkötter erhob.
33. Kapitel
Schnaufend stieg Pielkötter die Stufen zur Praxis des Psychologen Mark Milton in der zweiten Etage hoch. Einen Aufzug gab es immer noch nicht. Unwillkürlich musste er an seinen ersten Besuch hier denken. Damals hatte er Milton als Verdächtigen vernommen. Kaum zu glauben, wie sich alles innerhalb nur weniger Jahre, ja Monate verändert hatte. Seine Miene verdüsterte sich. Gerade wegen solcher neuen, und nun sehr einschneidenden Veränderungen suchte er den Psychologen auf, obwohl seine Zeit im Moment wahrlich äußerst knapp bemessen war. Im Fall Dr. Böhmer musste er allerdings sowieso erst einmal das graphologische Gutachten abwarten. Warum rechtfertigte er sich, nur weil er für eine Stunde sein Privatleben über das Berufliche stellte? Vielleicht lag es daran, dass dies eine Art Premiere war.
Inzwischen hatte er die Praxis erreicht. Die Tür stand offen. Pielkötter hängte seine Jacke im Vorraum auf.
»Kommen Sie rein«, rief Milton von hinten. »Ich erwarte Sie schon.« Als Pielkötter den Raum betrat, erhob sich der Psychologe aus einem Sessel. »Freut mich, Sie zu sehen«, begrüßte er ihn. »Oder sollte ich das besser nicht sagen. Wie Sie am Telefon angedeutet haben, geht es um ein schwerwiegendes Problem.«
Pielkötter stieß einen Laut aus, der sowohl nach Zustimmung wie nach Bedauern klang. Bevor er sich in den zweiten Sessel setzte, sah er sich noch einmal in dem Behandlungsraum um. Das Bild an der Wand zeigte mit
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