Ein Fall zu viel
hatten ihn sehr gerührt. »Willibald, mach dir keine Sorgen. Ich schaffe das«, hatte er zu ihm gesagt. Als wenig später ein Physiotherapeut erschienen war, um mit der linken Hand und dem linken Bein seines Vaters zu arbeiten, war auch Pielkötter davon überzeugt.
Vom Krankenhaus aus war er noch bei seiner Mutter vorbeigefahren und dann spät abends nach Duisburg zurückgekehrt. Marianne hatte schon im Bett gelegen und sich schlafend gestellt. Auch am Sonntag war sie ihm aus dem Weg gegangen. Sie hatte das Haus wortlos und ohne Frühstück verlassen. Unwillkürlich waren ihm dabei die Listen eingefallen, die er noch anfertigen sollte. Allerdings hatte er es vorgezogen, sich mit dem neusten Fall zu beschäftigen und bis spät abends im Präsidium zu arbeiten. Einige Male war er in Versuchung geraten, Katharina zum Essen einzuladen, hatte sich einen Anruf aber verkniffen. Stattdessen hatte er sich am Hauptbahnhof einen Döner gekauft.
Pielkötter seufzte. Am liebsten hätte er die Zeit um einige Monate vorgestellt. Sein Vater hätte dann sicher schon weitere Fortschritte gemacht, die private Situation wäre vielleicht geklärt.
Schluss jetzt, rief er sich zur Räson, konzentriere dich gefälligst auf deine Arbeit. Trotzdem kehrten die Gedanken immer wieder zu seinem Vater zurück. Würde er sich wieder ganz normal bewegen können? Dabei fiel ihm ein, dass Dr. Christoph Böhmer unter Arthrose gelitten hatte. Karl-Heinz Tiefenbach hatte das beiläufig erwähnt, aber erst jetzt wurde Pielkötter bewusst, warum dabei irgendeine Glocke in seinem Hinterkopf geklingelt hatte. Von diesem Leiden waren doch auch die anderen Opfer betroffen gewesen! Das konnte kein Zufall sein, zumal diese Krankheit bei mindestens zwei der Toten nicht zu ihrem Alter passte. Ein medizinisches Problem verband die Opfer. Waren sie alle in Behandlung gewesen?
Den Arzt von Erwin Lützow hatte er ja sogar gesprochen, damals war es aber um ein anderes Thema gegangen: Depression. Die Arthrose hatten sie nur gestreift. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, die Fäden liefen bei Dr. Paul-Martin Gerstenschneider zusammen. Vielleicht hatte dieser lauernde Blick, das leichte Zucken, als er den Namen Erwin Lützow erwähnt hatte, doch etwas zu bedeuten gehabt. Vielleicht waren ja auch die beiden anderen Opfer bei dem Arzt in Behandlung gewesen. Das musste er so schnell wie möglich herausfinden. Hätte er schon eher daran denken können? Ja, in der Akte von Christiane Altenkämper stand es doch: Sie litt an Arthrose. Wieso hatte er die Verbindung zu Erwin Lützow nicht gleich hergestellt? Setzten ihm die privaten Probleme tatsächlich so zu, dass er seinen Dienst nicht mit der gewohnten Gründlichkeit versah? Hatte er sich zu stark auf den Hilferuf von Christiane Altenkämper konzentriert? Sie hatte sich verfolgt gefühlt, also hatte sie keinen Selbstmord begangen, und er hatte deshalb nicht bei ihrem Arzt nachgefragt. Die Arthrose war »untergegangen«. Und erst durch den dritten Toten mit der gleichen Erkrankung wieder an der Oberfläche aufgetaucht.
Nachdenklich kritzelte Pielkötter drei Kreuze und das Wort Arthrose auf den unteren Teil eines leicht verknitterten Blattes. Die obere Hälfte war mit fast konzentrischen Kreisen und seltsamen Hieroglyphen übersäht. Wann gewöhnte er sich diese sinnlose Schmiererei endlich ab? Schließlich ging er nicht zur Mal-Therapie. Er verzog kaum merklich das Gesicht. Seufzend drückte er auf seinen mehrfarbigen Kugelschreiber und verband die drei Kreuze durch das in rot geschriebene Wort Arthrose miteinander. Anschließend kreiste er die Krankheit ein. Aus dem Kuli ertönte ein leises Knacken. Pielkötter schrieb nun mit schwarzer Farbe zusätzlich Dr. Gerstenschneider in den Kreis und zog eine Linie bis zu einem der Kreuze. Das markierte er mit E. L. für Erwin Lützow.
Pielkötter starrte eine Weile auf die Zeichnung. Er musste wirklich so schnell wie möglich herausfinden, ob auch die beiden anderen Toten zu Gerstenschneiders Patienten zählten. Sollte er sich direkt an den Arzt wenden? Sofern der etwas zu verbergen hatte, wäre er vorgewarnt. Nach kurzem Grübeln hielt Pielkötter es für besser, dieses Risiko zu umgehen und stattdessen bei den Verwandten und Bekannten der Toten nachzufragen. Ein Blick auf die Uhrzeit bestätigte ihm, dass die Praxis inzwischen ohnehin geschlossen hatte.
In Gedanken versunken markierte er das dritte Kreuz mit »C. B.« Machte es Sinn, bei Dr. Böhmer anzusetzen? Soviel er
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