Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
verzweifelt zurechtkonstruierte. Vielleicht musste man im Leben auch einmal lügen, und vielleicht war der Preis der Wahrheit ein neues, ein viel schöneres Leben? Wenn der Preis der Wahrheit Mutterliebe war, dann musste es eben genau dieses Opfer sein. Den bitteren Beigeschmack schob ich vehement zur Seite.
_______________KAPITEL 11_______________
Aufwachen ... und ein neues Leben
J
etzt hör auf, dir einen solchen Kopf zu machen. Jürgen hat einen Maler an der Hand, und der wird die Wohnung renovieren. Das brauchst du doch nicht selbst zu machen! Komm lieber zu mir, und lass uns Tapeten aussuchen. Danach gehen wir in die Sauna und essen dann noch einen Happen.«
Als ich meine Tasche für das Wochenende packte, merkte ich, dass ich gern in Hannover geblieben wäre. Ich fand es schön, endlich wieder eine Mutter zu haben. Ich freute mich auch, wenn abends das Telefon klingelte, und Mama war am anderen Ende der Leitung. Mama und Jürgen nahmen mir viele Dinge ab, und es erleichterte mir die Arbeit. Mein Leben lang war ich es gewohnt, für alles und jeden verantwortlich zu sein, und auf einmal hatte sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Jürgen kümmerte sich um meinen Umzug, fuhr mein Auto an den Wochenenden durch die Waschanlage, erneuerte Öl und prüfte den Reifendruck, und ein bisschen erinnerte er mich an Alfons.
Meine Bedürfnisse, bei dem herrlichen Wetter mit Capriola und Don durch die Heide zu reiten, mit Otto und Martha einen gemütlichen Plausch am Kaffeetisch zu halten und abends bei Gerd auf ein Glas Cidre vorbeizuschauen, schob ich zur Seite. Mein Leben hatte sich nun geändert. Da war es sicherlich normal, dass ich mich umstellen musste, und auch normal, dass man an den Wochenenden zu seiner Familie fuhr. Erleichtert stellte ich fest, dass es nur noch zwei Wochen waren, bis Pferd und Möbel in Ruhrstadt sein würden. Dann hätte diese Hetzerei auf der Autobahn auch ein Ende. Hektisch suchte ich nach der Tüte Storck Schokoladenriesen. Auf den Fahrten nach Waldstadt hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, stets eine Familientüte Schokoladenriesen mitzunehmen, und kam ich in Waldstadt an, war nicht ein einziger übrig geblieben.
Den Abend verbrachten wir in der Sauna. Meine Eltern waren früher jeden Freitag in diese Sauna gegangen, und schon als Fünfjährige schwitzte ich in der Kabine. Zum Glück, so dachte ich, ist mein Vater nun nicht mehr dabei ...
Jürgen kam mittlerweile fast jedes Wochenende mit in die Sauna. Ich spürte seine Blicke und versuchte ihm, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen. Als wir unter der Dusche standen, bewunderte Mama zum x-ten Male mein Tattoo auf der Hüfte.
»Wenn ich das so sehe, könnte ich mir glatt auch eines machen lassen«, scherzte sie.
»Mach doch einfach«, sagte ich, »in deinem Alter brauchst du dich doch um Konventionen auch nicht mehr zu scheren, oder?«
»Und Jürgen?«, flüsterte sie zurück.
»Ihr seid jetzt über fünfzehn Jahre zusammen«, gab ich erstaunt zurück, »da sollte eine Rose auf deiner Hüfte kein Drama sein, oder?«
Ich verstand meine Mutter oft nicht. Sie war achtundvierzig Jahre alt, hatte eine Top-Figur und war als Lehrerin mit ihrem Gehalt völlig unabhängig. Wenn sie ein Tattoo haben wollte, warum ließ sie sich dann nicht einfach eins machen? Ständig hinterfragte sie, was Jürgen wohl zu diesem und wohl zu jenem sagen würde, und manchmal kam sie mir vor wie ein verängstigtes Karnickel.
Als Jürgen zu den Duschen kam, verschwand ich so unauffällig wie möglich. Ich mochte es absolut nicht, wenn er mich nackt sah, und ging immer dann in die Saunakabine, wenn er gerade herauskam.
Als ich abends im Leopardenbett lag, lauschte ich zur Tür. Hatte ich da gerade etwas gehört? Kamen Schritte die Treppe hinunter? Es war nichts. Es war wohl nur meine Angst.
Noch am Tag meines Einzugs lernte ich meine Nachbarn kennen. Silke war eine hübsche junge Frau, vielleicht vier, fünf Jahre jünger als ich, und hatte fantastische naturblonde superlange Haare. Sie war Kinderkrankenschwester auf der Intensivstation einer großen Kinderklinik, und ich fand, dass sie exakt so aussah, wie man sich eine Kinderkrankenschwester vorstellte. Ihr Freund Rolf war genauso alt wie Silke und Gas- und Wasserinstallateur. Er hatte den Schalk im Nacken sitzen, und wenn er den Mund aufmachte, kam nur geistreich-witziges Geblödel heraus.
»Gas, Wasser, Scheiße! Und Tach auch, Rolf, der Nachbar«, hatte er sich vorgestellt.
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