Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
»Engelchen«. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht, außer, dass sie in meiner Fantasie ein weißes Gewand trug und blonde Locken hatte.
An einem Abend, als wir wieder einmal bei Jürgen und Margot waren, lernten wir Jürgens Mutter kennen. Trude hatte schlesische Weißwürstchen gekocht, und im späteren Verlauf des Abends trafen noch Norbert, Jürgens Bruder, und dessen Frau Irmhild ein. Irmhild war in anderen Umständen und hörte den ganzen Abend mit versteinerter Miene den Gesprächen zwischen Jürgen und seiner Mutter zu. Norbert war ein verschlossen wirkender Mann, der seine Gesichtszüge hinter einem Vollbart verbarg und kein einziges Wort sprach. Er arbeitete in der technischen Abteilung der Firma seines Bruders und war verantwortlich für die Entwicklung von Prototypen für Spezialaufträge, die die Firma aus aller Welt erhielt. Die beiden hatten sich gerade ein Reihenhaus in der Neubausiedlung am katholischen Krankenhaus gekauft und waren im Begriff, das Haus einzurichten, um bald einziehen zu können.
Der Vorteil des Hauses war, dass Jürgens Firma nur einen Steinwurf weit entfernt war und Jürgen seinen Bruder zu jeder Tages- und Nachtzeit ins Büro bestellen konnte, wenn wieder irgendwelche Spezialaufträge eiliger Natur eingegangen waren.
Jürgen wurde von seiner Mutter nur »Jückele« genannt, und er nannte seine Mutter ausschließlich »Muddel«. Alles, was wir von Jürgens Vater erfuhren, war, dass dieser Polizeibeamter in Breslau war. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger. Offensichtlich war er verstorben, da aber weder sein Name noch sonst eine Anekdote von seiner Existenz zeugten, geriet diese an dem besagten Abend in Vergessenheit. In all den folgenden Jahren sollte dieses offensichtliche Tabu auch nicht ein einziges Mal gebrochen werden.
»Jückele«, so schwelgte Trude, »weißt du noch, als wir auf der Flucht waren und uns noch nicht einmal mehr Kartoffeln kaufen konnten?«
»Das waren schwere Zeiten, Muddel«, antwortete Jürgen. »Aber du hattest immer eine Lösung und hast uns gerettet!«, entgegnete Trude.
Wir erfuhren aus dem angeregten Gespräch der beiden, dass Jürgen kleine Kupfergitter aus Hauswänden gekratzt hatte. Diese Kupfergitter waren an den Außenwänden der Häuser als Verdeckung von Abflussrohren angebracht, und es gab sie an fast jedem Haus in Schlesien. Jürgen hatte also nachts diese Gitterchen mit einem kleinen Nagel herausgekratzt und so viele davon an einen Eisenwarenhändler verkauft, dass die Familie wieder einige Wochen über die Runden kam. Trudes Bewunderung für ihren ältesten Sohn war kaum zu übersehen, geschweige denn zu überhören. Das »Jückele« war der Retter der Familie und hatte wohl immer eine passende Idee parat, sich und seine Familie aus jedwedem Schlamassel zu ziehen. In ihrem Verhalten, Jürgen auf ein Podest zu stellen und ihm bedingungslos zu huldigen, waren sich meine Mutter und Trude wesentlich ähnlicher als Schwiegermutter und Ehefrau.
Als sich meine Mutter wenige Monate später an Jürgen wandte, um sich beim Kauf einer Eigentumswohnung beraten zu lassen, vermittelte Jürgen ihr eine Wohnung im Neubaugebiet am katholischen Krankenhaus. Das Reihenhaus seines Bruders und seiner Schwägerin lag direkt gegenüber von unserem Hauseingang. Er hatte uns strategisch klug untergebracht, denn seine zweite Nichte, die Tochter von Irmhild und Norbert, wurde häufig von ihrem Onkel besucht, sodass Jürgen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte.
Als ich sechzehn Jahre alt war, erfuhr ich, dass Irmhild ihrem Schwager Hausverbot erteilt hatte und Jürgen seine zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alte Nichte nicht mehr besuchen durfte. Norbert, der sicherlich die Gründe für diesen innerfamiliären Bruch kannte, saß zwischen zwei Stühlen. Schließlich hatte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht, als für seinen Bruder zu arbeiten, und war es gewohnt, von diesem »über Wasser gehalten zu werden«. Die Ehe zerbrach, Norbert zog aus und wurde einige Zeit später zum Mittelpunkt Düsseldorfer Polizeieinsätze. Er spazierte splitterfasernackt über die Düsseldorfer Kö, verteilte Tausendmarkscheine und gab an, der leidende Jesus Christus zu sein. Norbert verbrachte seine letzten Jahre im medikamentösen Delirium und wurde von seiner Mutter Trude bis zu seinem Tod gepflegt. Und natürlich war es Jürgen, der stets bemüht war, die besten Ärzte und die besten Kliniken ausfindig zu machen, wenn Norbert trotz seiner Medikamente wieder
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