Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
habe selbst ich ihm nicht abgenommen, im Gegensatz zu meiner Mutter, die das natürlich vollkommen nachvollziehbar fand und Jürgen »sooo dankbar« war, dass er sich solche Gedanken machte ...
Zwischen meinem sechsten und elften Lebensjahr schleppte ich jeden Freitag unzählige Putzeimer auf die Straße, und obwohl alles besser war, als am Küchentisch zu sitzen, widerte mich diese Aufgabe an. Mein Vater war in diesen Stunden meist zum Pokern in einem verräucherten Hinterzimmer einer Spelunke und tauchte erst am Abend wieder auf, wenn wir gemeinsam zur Sauna fuhren.
Jeden Freitagabend besuchten wir diese Sauna, und fast alle Bekanntschaften, die meine Eltern in diesen Jahren machten, rekrutierten sich aus den Stammgästen der Sauna. Nach der Sauna wurde ich abgefüttert und in meinem Badezimmer eingeschlossen, weil sich meine Eltern noch bei irgendwelchen Leuten trafen.
Mit Jürgen und Margot war das anders. Jürgen regte sich darüber auf, dass mich meine Eltern allein ließen, und wies meine Mutter in meinem Beisein zurecht, wie unverantwortlich er dieses Prozedere fand. Bei den wenigen Besuchen bei uns zu Hause kam Jürgen regelmäßig an meine Eckbank in der Küche, streichelte mir über mein Haar und sagte mit tiefer und dunkler Stimme: »Du bist so ein hübsches und liebes Mädchen. Du hast es nicht gut hier.«
Mir war das damals unheimlich. Denn Jürgen schien neben meinen Großmüttern der einzige Mensch zu sein, dem mein Wohlbefinden am Herzen lag.
Seine tiefe Stimme war ungewohnt für mein Ohr, denn meine Eltern sprachen meist sehr laut und in schrillen Tonlagen mit mir, und von einem Mann war ich liebevolle Worte ganz und gar nicht gewohnt. Und hübsch fand ich mich nun am allerwenigsten.
Als Jürgen damals meiner Mutter unverblümt die Meinung sagte, änderte sich meine Haltung ihm gegenüber schlagartig. Ich fand diesen Mann so ungeheuerlich mutig. Meine Eltern waren damals Götter für mich. Sie waren die Götter meines nicht vorhandenen Kinderzimmers und entschieden minütlich über mein Schicksal. Ihren Entscheidungen stand ich als Kind hilflos und mit grenzenloser Ohnmacht gegenüber. Jürgen musste auch ein Gott sein und noch dazu ein viel mächtigerer Gott als meine eigenen Eltern.
So jedenfalls erschien mir das damals, denn schließlich wurde ER von meinen Eltern nicht bestraft, sondern er erreichte, dass meine Eltern sich nach den Saunabesuchen darauf einließen, mich mitzunehmen.
Ich war gern bei Jürgen und Margot, denn beide gaben mir das Gefühl, in ihrer Wohnung stets willkommen zu sein. Mit Ulf durfte ich gemeinsam Abendbrot essen, und ich genoss den Anblick von Margot, die in der Küche stand, um unsere Brote zu schmieren und uns zu verwöhnen. Nichts schien ihr zu viel zu sein. Ulf und Martin hatten jeder ein eigenes Zimmer, und Ulf und ich durften in seinem Zimmer ungestört spielen. Ulf hatte tolle Spielsachen, und ich konnte mein Glück kaum fassen: So, oder so ähnlich, musste das Kinderparadies aussehen, da war ich mir sicher.
Spätabends, wenn wir dann wieder nach Hause fuhren, lag ich selig schlafend auf der Rückbank des Peugeots. Doch noch auf der Heimfahrt wurde ich jäh mit der Realität konfrontiert: Mein Vater hatte sich sehr oft und ausgiebig dem Alkohol gewidmet, und jedes Mal entbrannte ein heftiger Streit zwischen meinen Eltern. Meine Mutter schrie, er möge doch um Himmels willen langsamer fahren, und mehr als einmal rollte ich bei seinen rasanten Kurvenfahrten von der Rückbank herunter und harrte anschließend unten im Wagenfond liegend aus, was wohl als Nächstes passieren würde. Diese Heimfahrten eskalierten im Laufe der Jahre: Mal fuhr mein Vater entgegengesetzt durch Einbahnstraßen, mal legte er sich mit einem fremden Verkehrsteilnehmer an und brüllte dann provokativ aus dem Fenster: »Du Arschloch! Wo hast du fahren gelernt? Ja komm her! Wir klären das!«
Meine Mutter schrie meinen Vater an: »Abdul! Hör doch auf damit! Fahr bitte weiter!«
»Charab Allah, Gundis! Lass meinen Arm los!« Und KLATSCH, hatte meine Mutter sich die erste von mehreren Ohrfeigen eingehandelt.
Zu Hause angekommen schrien sie mich an: »Sofort ins Bett, Christine!« Und sie stritten und diskutierten weiter wie die Kesselflicker!
Dann folgten die Prügelaktionen, die ich als stumme Zuhörerin in meinem Bett liegend verfolgte, bis ich über den Schreien meiner Mutter schließlich eingeschlafen war.
Ich wusste nicht, was mir lieber war: in meinem Badezimmer eingeschlossen
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