Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Kind reicht. Der Stachel saß tief. Bohrte sich unaufhaltsam in meine Seele. Es tat so weh. So entsetzlich weh. Ich musste weg von diesem Mann. Dieser Mann liebte mich nicht. Dieser Mann hatte mich belogen und betrogen. Er war zu mir gezogen, weil ich ihn gezwungen hatte. Er hatte mich geheiratet, weil ich ihn gezwungen hatte. Er hatte mir ein Kind gemacht, weil ich ihn gezwungen hatte. Er hatte die Eigentumswohnung gekauft, weil ich ihn gezwungen hatte. Er hatte noch nie etwas selbst gemacht. Noch nie. War da irgendwann einmal Eigeninitiative? Ich konnte mich nicht erinnern! Oh! Doch! Klar! Wenn Felix Sex wollte, dann, aber auch nur dann, zeigte er Eigeninitiative. Sein ganzes Geschwafel von wegen »Magst du dies gerne? Magst du das gerne? Wie hättest du es denn gerne?«. Alles gelogen. Geheuchelt. Damit ich zu Diensten war. Damit ER auf seine Kosten kommt. Damit ER sich gut fühlt. Mein Höhepunkt? Den gab es doch nur, damit ER sich als Held fühlte: Ich, der große Felix Birkhoff. Ich habe es ihr das erste Mal besorgt.
Wie hatte ich nur so einen Egozentriker heiraten können? Ich schlug die Hände vors Gesicht. Heulte. Weinte salzige Tränen. Ich hielt das nicht mehr aus. Warum? Unzählige Male heulte und bettelte ich. Sag mir wenigstens den Grund. Warum nicht? WAS habe ich falsch gemacht? Bitte, WAS?
Eine düstere Zeit brach an. Noch düsterer als jemals zuvor. Ich sah die Sonne nicht mehr. Felix war außerstande, mir meine Frage nach dem »Warum nicht?« zu beantworten. Zuckte immer unwissend mit den Schultern. Ich fragte immer wieder danach. Jeden Tag. Jede Woche. Jeden Monat. Jedes Jahr. Ich fing immer wieder mit diesem Thema an. Immer wieder. Es ließ mir keine Ruhe. Es ließ auch Felix keine Ruhe. Selbst Jahre später, als wir uns wieder annäherten, kam immer wieder dieses Thema auf den Tisch. Ich würde so lange keine Ruhe geben, bis ich den Grund kannte. Den Grund für sein »Nein«. Nein zur Hochzeit und viel, viel, viel schlimmer, Nein zu einem zweiten Kind.
Felix konnte mir seine Gefühle damals nicht erklären. Sich selbst konnte er diese Gefühle nicht erklären. Aber sie waren da. Gefühle von Angst. Felix hatte panische Angst, dass etwas kaputtgehen könnte, das außerhalb seines Einflussbereiches stand. Er ist Bauingenieur. Und mir fällt ein, wie Felix von einem Brückeneinsturz hörte, der auf einen Konstruktionsfehler zurückzuführen war. »Das ist der GAU!«, kommentierte er diese Schlagzeile. »Wenn dir das passiert, dann ist alles vorbei. Dann kannst du einpacken.« Felix setzt sich Tag für Tag mit irgendwelchen Brückenkonstruktionen auseinander.
UNKALKULIERBARKEIT ist das Panikwort des Bauingenieurs.
UNKALKULIERBARKEIT ist Felixʼ Panikwort.
UNKALKULIERBARKEIT ist auch mein Panikwort.
Felix liebte mich schon damals für die schönen Seiten der Unkalkulierbarkeit: mein Temperament, meinen Ideenreichtum, meine Ziele, meine Träume, meine Leidenschaften, meine Fantasie, meine Spontanität, meine Kreativität, meine Impulsivität, meine Schlagfertigkeit. Er liebte mich so, wie ich bin. Aber er spürte auch die andere Seite dieser Unkalkulierbarkeit. Und er zögerte. Er zauderte. Er verharrte. Er hielt aus. Er hielt stand. Ich hielt meinen Mann für schwach. Ich war der pazifische Sturm gegen ihn. Ich frage mich: Was ist stärker? Der pazifische Sturm oder die westfälische Eiche?
Seine ständige Zurückhaltung wirkte auf mich wie Schwäche. Verwurzeltsein mit der Heimat, das ganze Gesülze von »Heimatgefühl«, die Verbundenheit mit dem elterlichen Haus, das Sichverpflichtetfühlen dem landwirtschaftlichen Betrieb gegenüber, diese Attribute rangen mir höchstens ein geringschätziges Lächeln ab. Ich kannte so etwas nicht. Ich litt. Wartete auf Anerkennung. Wartete auf Initiative. Wartete darauf, dass Felix sich erklärte. Offenbarte. Preisgab. Ich konnte es nicht. Er konnte es nicht. Wir saßen im selben Boot. Nicht auf zwei verschiedenen Planeten.
Mein Absturz war heftig und plötzlich wie ein Monsunregen. Von heute auf morgen ging gar nichts mehr. Ich schluckte vier, fünf, sechs Fluoxethin, aber auch das hielt diesen Niedergang nicht auf.
Es begann an einem Morgen, an dem ich Spätdienst hatte. Völlig erschöpft fuhr ich wie ein Roboter Mia in die Kita. Froh, dass ich sie los wurde. Ich fuhr zum Stall und wollte reiten. Mir war das Pferd gleichgültig, und mir war das Reiten gleichgültig. Es war mir einfach alles gleichgültig! Unverrichteter Dinge schleppte ich mich nach
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