Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Fähigkeit zu Hilfe, völlig abzuschalten und mit mir selbst zufrieden zu sein, wenn niemand an diese fragile Seele rührte.
Während unserer Ausritte sahen wir viele Tiere: Hasen, Kaninchen, Rehe, Bussarde und viele schöne Ziervögel. Ich liebte es, meiner kleinen Tochter die Welt zu zeigen, und erklärte ihr mit Begeisterung alles Neue. Es waren die wenigen Momente, in denen ich nicht nur stark auftrat, sondern auch stark war. Das kam an bei Mia. Es gibt bei uns einen Baum im Wald, dessen Baumstamm direkt in Augenhöhe eine Aushöhlung aufweist, die aussieht wie eine Vogeltränke. Diesen Baum erreicht man aber nur, wenn man vom Weg abreitet und durch das tiefe Laub direkt in den Wald hineingeht. Wir fanden das beide immer sehr spannend, und das Pony trat geschickt und sicher auf diesem unebenen Boden auf. In den Sommermonaten nutzten die Vögel tatsächlich dieses Wasserreservoir aus der natürlichen Vogeltränke. Das konnten wir unzählige Male beobachten. Als Mia in einem trockenen Sommer feststellte, dass das Regenwasser fast verdunstet war, machte sie sich schreckliche Sorgen um die Vögel. Sie hatte tatsächlich die Befürchtung, alle Vögel am Himmel könnten nun verdursten und sterben. Ihre Mama hatte die rettende Idee, und Mias Herz flog mir entgegen: Fortan ritten wir stets mit einer vollen Volvic-Flasche los, und mit strahlenden Augen schüttete Mia vom Pony aus das Wasser in die Tränke.
Zu Hause fanden die Tobsuchtsanfälle von Mia kaum noch ein Ende. Meine hingegen hatten aufgehört. Mia und Felix sahen mich die meiste Zeit nur noch heulend am Küchentisch. Ich war auf dem besten Wege, mich selbst aufzugeben. Vielleicht hatte es ein Gutes, dass ich mich damals mit Antidepressiva vollstopfte. Vielleicht. Wenn Mia »Kinder« sagen wollte, dann benutzte sie das Wort »Tetta«. Immer wieder rannte sie über den Hof meiner Schwiegereltern und rief »Tetta«, »Tetta«. Mir zerbrach es das Herz. Ich hatte den Eindruck, dass Mia instinktiv wegwollte von mir. Dass sie instinktiv den Umgang mit ihresgleichen, mit Kindern, bitter nötig hatte. Mir wurde bewusst, dass ich Mia nicht mehr guttat. Eine schmerzhafte Pille für mich. Gleichzeitig aber merkte ich auch, dass Mia, meine eigene Tochter, mir selbst nicht guttat. Und diese Erkenntnis war noch viel schmerzhafter. Ich fühlte mich, als ob ich mein eigenes Fleisch und Blut nicht mehr ertragen konnte. Ich fühlte mich wie eine Rabenmutter. »Du kotzt mich an. Hätte ich gewusst, was aus dir geworden ist ...« Ich kapitulierte als Mutter und versuchte zu retten, was noch zu retten war.
In der Kindertagesstätte schwang ich eine beeindruckende Rede. Der Leiter der Kita hatte mir gerade erläutert, dass ich weit hinter den alleinerziehenden Müttern auf der Warteliste rangieren würde. »Ach ja? Das ist ja interessant!«, hatte ich provokativ geantwortet. »Und was bin ich? Mein Mann verlässt morgens um halb acht das Haus und kommt abends nicht vor neun Uhr nach Hause. Ich muss arbeiten gehen. Wie stellen Sie sich das vor? Im Schichtdienst! Mein Frühdienst beginnt um halb sechs, mein Spätdienst um halb zwei und mein Nachtdienst um halb zehn abends. Meinen Sie, das ist einfacher für mich, weil ich VERHEIRATET bin? Meinen Sie das wirklich?«
Im Gegensatz zu der Dame vom Jugendamt reagierte der Leiter der Kita ausgesprochen menschlich. Die Dame vom Jugendamt hatte mir am Telefon noch vormittags schnippisch geantwortet: »Tja, so ist das nun mal. Wenn Sie verheiratet sind, dann brauchen Sie nicht arbeiten zu gehen!« Mir lag die Frage auf der Zunge, ob sie lesbisch sei oder welch anderer schrecklicher Grund SIE in die Berufstätigkeit trieb, hatte mir diese Antwort aber zum Glück verkniffen und einfach aufgelegt. Besser warʼs. Der Leiter der Kita erhielt vom Tage meines Besuchs an regelmäßig einen freundlich-zwitschernden Morgenanruf. Am vierten Tag hatte er die Nase voll. Bei Franz Althoff hatte das damals auch gewirkt. Probieren Sieʼs einmal aus: Wenn Sie Glück haben, sind die Leute es so leid, Ihren Namen zum x-ten Male zu hören, dass Sie bekommen, was Sie wollen. Wenn nicht, auch egal. Sie habenʼs dann wenigstens versucht. Ich unterschrieb erleichtert den Betreuungsvertrag und erhielt den Kitaplatz für Mia, als sie genau eindreiviertel Jahre alt war und »Tetta, Tetta« rufend über den Hof rannte.
Mittlerweile hatte Mia schon so viel Ungutes adaptiert, dass es höchste Zeit wurde, dass sie mehr mit Kindern spielte. Als ich sie zwei Wochen vor
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