Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Kita-Beginn dabei beobachtete, wie sie mit originalgetreu nachgeäfftem schwiegermütterlichem Stöhnen schwerfällig aufstand, da wusste ich, dass meine Entscheidung goldrichtig gewesen war! Mia machte nun auch noch Probleme beim Essen. Ich weigerte mich energisch und bestimmt dagegen, dass die Regel »Man muss seinen Teller leer essen, sonst regnetʼs« im Hause Birkhoff auf Mia übertragen wurde. Ich wollte nicht künstlich eine ständig diäthaltende Frau heranziehen, sondern ihr beibringen, dass man so lange isst, bis man satt ist. Teller halbvoll, viertelvoll, gar nicht voll. Egal! Wir nahmen jeden Tag bei meinen Schwiegereltern das Mittagessen ein. Zu Hause fühlte ich mich einsam. Außerdem schmeckte mir die Küche meiner Schwiegermutter vorzüglich, und ich brauchte nur für den Abend zu kochen.
Wenn man aber so eng mit drei Generationen jeden Tag zusammen ist, dann ist die Gefahr, dass der Schuss nach hinten losgeht, relativ groß. Grenzen verschieben sich, alle fühlen sich für alles verantwortlich, und irgendwann diskutiert man selbst über die Entscheidungen, die einem nicht zustehen. Aus so einer Nummer kommt man nur schlecht wieder raus, und oft muss man Porzellan zerschlagen, um das eigene Revier wieder abzustecken. Mia sollte den Teller leer essen, und ständig schob meine Schwiegermutter noch ein Löffelchen, wieder ein Löffelchen und dann das vorletzte des allerletzten Löffelchens in das bereits pappsatte Kind hinein. Wenn ich dann mopperte, dann schaute mich meine Schwiegermutter mit ihrem »Was-du-schon-wiederhast«-Gesicht an und machte weiter. So, als ob ich gar nichts gesagt hätte. So, als ob ich nicht die Mutter wäre. So, als existierte ich gar nicht. Irgendwie war ich überflüssig. Das kam mir alles bekannt vor, und wie eine Morgendämmerung schoben sich Erinnerungsfetzen unaufhaltsam in mein Bewusstsein. Mia bekam diesen täglich wiederkehrenden Streit mit, verband Essen mit Disharmonie und ... jetzt aß sie gar nicht mehr. Das Problem hörte zum Glück binnen kürzester Zeit auf, als Mia in die Kita kam.
Drei Monate vor Beginn der Kitazeit erzählte ich meinem Mann und meinen Schwiegereltern von meinem Vorhaben, die Kleine in Betreuung zu geben. Ich hatte auf ihre Zustimmung gehofft, spätestens nach meiner Überzeugungsarbeit. Felix quälte sich nur widerwillig zwecks Besichtigung der Kitaräume dorthin und hatte Angst, dass sein kleines Mädchen inmitten der Kinderschar untergehen könnte. Stundenlang hatte ich auf ihn eingeredet, sämtliche Bedenken vom Tisch gefegt, und als wir endlich inmitten der Kitakinder standen und er gerade anfangen wollte, das Ganze doch ein wenig gut zu finden, da drückte ein etwa dreijähriger Junge einem jüngeren Kind die Gurgel zu. Das beherzte Einschreiten der Erzieherinnen konnte dieses traumatische Bild auch nicht wiedergutmachen. Mit weit aufgerissenen Augen stand Felix zwischen den lärmenden Kindern und starrte mich ungläubig an. »Das ist doch nicht dein Ernst?«, war alles, was er noch rausbrachte. Ich begrub, wie schon so oft, meinen Traum von Loyalität und Unterstützung. Ich rief Dana an. Heulend und völlig verzweifelt. Dana hatte mittlerweile vier Kinder. Kitakinder. Hübsche, nette, normale, sympathische und ihre Mutter liebende Kitakinder. Sie gab mir die Kraft, durchzuhalten und mich entgegen aller Widerstände ein letztes Mal durchzusetzen.
Meine Schwiegereltern sprachen ab sofort kein Wort mehr mit mir. Der tägliche Gang zum Pferd wurde ein schwerer Gang. Wenn ich zum Dienst musste, brachte ich Mia nur widerwillig zum Hof. Mutti, in ihrer Verzweiflung und mit ihren ganz eigenen Verlustängsten und Sehnsüchten, verwöhnte Mia immer mehr, je näher der Tag der Kita rückte. Es war eine bedrückende Atmosphäre, so als hätte ich das Kind für das Schafott angemeldet, nicht für die Kita.
In meiner Fantasie lief ein Film ab. Eine Mischung aus einem Gemälde von Brueghel und einem Bild vom sterbenden Jesus: Ich, in einem mittelalterlichen Gewand, zerre herzlos meine barfuß laufende, in Lumpen gekleidete und sich heftig wehrende Tochter die Stufen zum Schafott hoch und drücke ihr Köpfchen unter das Fallmesser einer Guillotine. Meine Schwiegermutter, in ein bäuerliches Kleid mit abgewetzter Schürze gehüllt, krallt sich mit letzter Kraft und völlig hilflos wirkend an meinem Bein fest und wird bei jedem Schritt von mir die Stufen mit hochgeschleppt. Sie schluchzt bitterlich und fleht um Gnade. »Habt Erbarmen, Frau! So
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