Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
sondern auch noch Mikrofiche-Dateien mit deinen Röntgenbildern geschickt. Da hatten wir gar nicht mehr mit gerechnet. Über dreißig Jahre alt. Die Aufbewahrungsfristen sind gar nicht so lange. Naja. Jedenfalls haben sich die Kollegen vom Kommissariat Tötungsdelikte deinen Fall gekrallt. Die wollten gegen deinen alten Herrn Anzeige erstatten und ermitteln. Wegen versuchten Totschlags. Wird aber leider nix draus. Verjährt nach fünfundzwanzig Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt der Tat an. Im Gegensatz zu Mord. Der verjährt nie. Aber dann wärste ja jetzt nicht hier!«
Wir lachten. Polizeihumor. Typisch.
»Die Auswertungen der Röntgenbilder, willst du die wissen?« Mir wurde schlecht. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Doch, doch. Wenn, dann will ich alles hören!«
»Ich habe noch mal im Protokoll geblättert. Du erzählst da, dass du drei oder vier Jahre alt warst, als du das erste Mal ins Krankenhaus musstest. Das stimmt nur insofern, als dass du in dem Alter tatsächlich dort warst. Ist aber nicht alles. Es fing schon früher an. Die ersten Röntgenbilder sind vom März 1967, da warst du anderthalb Jahre alt. Die Diagnose erzähle ich dir nicht. Ich habe im Krankenhaus angerufen. Der Typ von der Aktenhaltung war völlig fertig und fragte mich, ob du noch lebst. Ich musste ihn erst mal beruhigen.«
Mir dämmerte etwas. Die Schmerzen. Die unerträglichen Schmerzen. Nachts. »Patrizia!« Meine Stimme klang schrill. »Patrizia, steht da drin ... ich meine ... weißt du, WAS alles geröntgt wurde?«
»Und ob. Willst du das wirklich sooo genau wissen?«
»Ich MUSS! Aber warte. Ich zähle es dir auf. Sag mir nur, obʼs stimmt! Bitte. Es ist wichtig für mich!«
Patrizia nickte, und ich zählte auf: »Mein Kopf, mein Brustkorb, meine Schultern, meine Handgelenke, meine Kniegelenke, meine Fußgelenke. Das warʼs. Oder?« Patrizia schüttelte den Kopf: »Das Nasenbein fehlt noch. Ist hier extra aufgeführt. Ansonsten perfekt. Du hast alles aufgezählt. Hier stehtʼs: Schädel, Thorax, Schultern und so weiter ... Alles aus dem März 1967. Unglaublich! Woher weißt du das? Kein Mensch könnte sich daran erinnern. Geht doch gar nicht. Das Erinnerungsvermögen fängt frühestens mit drei, vier Jahren an.«
Ich erzählte Patrizia von meinen Schmerzen in der Nacht.
Gespannt hörte sie zu. »Unglaublich!«, sagte sie. »Phantomschmerzen! Ich habe neulich noch einen Bericht gelesen, da stand drin, dass das Schmerzgedächtnis das erste ist, das sich zu Wort meldet. Der Köper kann sich das merken und jederzeit abrufen. Bei traumatischen Geschichten zum Beispiel. Ist ja echt Wahnsinn. Und jetzt sitzt du hier vor mir und erzählst mir genau DAS. Man lernt nie aus.« Patrizia war sichtlich beeindruckt. Fachfrau durch und durch. Eine tolle Kollegin. Manchmal vergaßen wir, dass es um mich ging. Aber das war gut so. Für die Vernehmungen und die ersten Ermittlungen war es wirklich gut so. Wir waren am Ende angekommen. Hatten für die gesamte Vernehmung zweiundvierzig Stunden zusammengesessen. Auf sechsundfünfzig Seiten war mein Schicksal dokumentiert. Bis zu den heutigen Auswirkungen. Sechsundfünfzig Seiten, die nun zur Staatsanwaltschaft gehen würden.
Zwei Sitzungen hatte ich währenddessen bei der Therapeutin. Sie war Verhaltenstherapeutin. Ob ich mit ihr dauerhaft zusammenarbeiten konnte, wusste ich noch nicht so genau. Es ging mir nicht sonderlich gut. Meine Kräfte verließen mich. Ich stürzte wieder ab. Langsam und unaufhaltsam. Mit jeder Woche und jeder neuen Erkenntnis ein Stückchen mehr. Felix war für mich gestorben. Ich konnte ihm nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr abgewinnen. Wir sprachen nicht mehr miteinander. Und Mia? Ich war froh, wenn sie in der Kita war. Auch ihr, meiner eigenen Tochter, konnte ich nichts mehr abgewinnen. Noch zwei Tage, dann würde ich ohnehin in die Klinik fahren. In drei Wochen würden wir dann weitersehen. Bevor ich meine Koffer packte, musste ich noch zur Rechtsanwältin. Kollegen hatten sie empfohlen. In dieser Kanzlei wurden beide Seiten verteidigt. Die Missbraucher. Und die Opfer. Die Rechtsanwälte in dieser Kanzlei wussten, wie es läuft. Makaber. Aber gar nicht mal schlecht. Um zwanzig Uhr sollte ich da sein und sämtliche Unterlagen mitbringen, die ich hatte. Insbesondere die Tagebücher. Die Rechtsanwältin war eine sympathische, lebhafte Frau in meinem Alter. Herzlich begrüßte sie mich. »Haben Sie alles mit? Prima. Wir verstauen das Ganze im Safe. Hier ist
Weitere Kostenlose Bücher