Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
ihn anrufen würde, wenn es zu schwierig würde. Sofort und unverzüglich. Meine Jammerei hatte ihn überzeugt. Ich wollte nicht zu Hause bleiben. Ich wollte nicht bei Mia bleiben. Ich wollte nicht bei Felix bleiben. Ich wollte arbeiten. Ich wollte die Uniform anziehen. Sehen und fühlen, dass ich Polizistin war. Wollte meine Kollegen. Meine starken Jungs. Wollte die, die beherzt zupackten, die Entscheidungen trafen, die agierten und nötigenfalls zuschlugen, die wollte ich an meiner Seite spüren. Nicht Felix. Nicht diesen Schwächling. Der nichts tat. Der mich immer nur belämmert ansah. Der auch Schuld hatte. Der mich bitten und flehen ließ. Der nie wirklich zu mir stand. Der illoyal war. Unzuverlässig. Nichtstuend.
Die Vernehmungen waren grauenvoll. Patrizia gab sich Mühe. Unglaubliche Mühe. War lieb. Einfühlsam. Machte ihren Job professionell. Gewissenhaft. Bis ins Detail. Jedes noch so schreckliche Detail. Patrizia trocknete meine Tränen. Machte Pausen mit mir, wenn ich nicht mehr konnte. Ich qualmte ihr die Bude voll. Sie war Nichtraucherin. Die Arme. Ich hatte Tagebuch geschrieben. Seit meinem zwölften Lebensjahr. Bis Afrika. Also genug Stoff. Genügend Beweise. Stundenlang saß ich bei Patrizia im Büro. Ihre Professionalität half mir. Sie machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Wann immer sie Zusammenhänge erkannte, die mir völlig zusammenhangslos erschienen, schüttelte sie energisch den Kopf: »Hast du wirklich niemals geschnallt, dass Jürgen dein Tagebuch ständig gelesen hat? Nicht ein Mal. Ständig. Täglich. Da hat es dir auch nix genutzt, dass du es versteckt hast. Irgendwann hat er es wiedergefunden. Ich zeig dir die Stellen, die ich meine.«
Wir blätterten und blätterten. Schlugen Seiten zurück und wieder vor. Patrizia hatte Recht. Mit meinen Tagebüchern hatte ich Jürgen die »Gebrauchsanweisung« geliefert. Er konnte lesen, wann, wie, wo und mit wem ich meine ersten sexuellen Fantasien hatte. Konnte in Ruhe abwarten, bis er meinte, dass »sein Früchtchen reif war«. Konnte im passenden Moment zuschlagen, nämlich dann, als ich den mir verhängnisvollen Satz in mein Tagebuch geschrieben hatte: »Ich träume in letzter Zeit öfters, wie ich mit einem Jungen schlafen möchte.«
Jürgen setzte meine kindlich-naiven Bravo -Fantasien, meine ersten zarten erotischen Träumchen, brutal, rücksichtslos, gezielt und unausweichlich in die Realität um. Ich war vierzehn, hatte noch zwei Milchzähne, keinen Busen, keine Periode, keine nennenswerten Erfahrungen und, das Schlimmste: KEINE WAHL. Ich hatte einfach nur geträumt. Nicht mehr und nicht weniger. Einfach nur geträumt. Als Kind wunderte ich mich immer, dass dieser Mann so viel wusste. Dass er zum perfekten Zeitpunkt, wenn ich gerade von Greg geträumt hatte, über Greg herzog und mich verletzte. Dass er genau im richtigen Moment im selben Wortlaut über meine Mutter schimpfte, wie ich es am Abend zuvor in mein Tagebuch geschrieben hatte. Dass er wusste, wann ich mit wem meine erste verbotene Zigarette geraucht hatte und welche Partys mir besonders am Herzen lagen. Welche Jungs ich nett fand, und warum ich sie nett fand. Er kannte meine geheimsten Wünsche und erfuhr so auch, wann ER in Gefahr war, wann ER wieder nett und lieb sein musste. Wie verhext war das damals.
Ich schrieb in mein Tagebuch: »Auch Jürgen versteht mich nicht mehr«, und schon mimte er den verständnisvollen Zuhörer. Er hatte gelesen, dass Dana, Anka, Gitta und Carla offenbar meine Zuhörerinnen waren, und zog meine Freundinnen gezielt in den Dreck. Bei meiner Mutter lästerte er über die Mütter meiner Freundinnen ab, obwohl er diese gar nicht kannte. Aber selten war das, was er informell als Fakten schilderte, die Unwahrheit.
Die Informationen dafür hatte er auch aus meinem Tagebuch. Jürgen war mir als Übermacht erschienen. Als eine Übermacht, die alles wusste, alles kannte, alles regelte.
Ich war fünfunddreißig Jahre alt, Polizistin und Mutter, als ich begriff, dass Jürgen damals eine Übermacht war. Dass er mir nicht nur so erschien als Kind, sondern dass er es tatsächlich war. In maliziöser Absicht hatte er manipuliert. Nicht nur die Personen, sondern auch die Geschehnisse. Manipulieren heißt »steuern«. Wir benutzen dieses Wort dann, wenn wir von einer nichtsichtbaren, nichterkennbaren, nichtdurchschaubaren Steuerung sprechen. Zur Manipulation gehört, dass nur einer das Ziel kennt. Der, der manipuliert, kennt das Ziel. Die anderen
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