Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
latschen mit. Haben keine Ahnung, dass ihre Denkart, ihr Handeln, ihr Reden, ihre Gefühle von anderen Kräften gesteuert werden. Man schlägt die Richtung ein, die einem vorgegeben wird, und meint, dass man die Richtung selbst bestimmt hat. Merken Sie sich das gut: Nur der Täter kennt das Ziel. Nur der Täter.
Patrizia tat mir gut. Ihre Art der Vernehmung tat mir gut. Wir waren Kolleginnen. Kannten uns beide aus mit Ermittlungen. Patrizia band mich ein in die Ermittlungen. Munterte mich auf, zu recherchieren, Fragen zu klären, Knoten zu entwirren. Und irgendwann musste auch ich erkennen, dass alles das kein Zufall war. Dass es auf dieselbe Weise gelaufen war, wie wir es zigfach in der Fachliteratur nachlesen können. Wie es Ärzte, Therapeuten, Ermittlungsbeamte, Frauenhäuser und Institutionen wie Wildwasser schon seit Jahren der Öffentlichkeit beizubringen versuchen: KEINE ZUFÄLLE. Jürgen kannte meine Mutter seit ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Er gehörte zum Bekanntenkreis meiner Eltern. Fuhr damals schon Jaguar, verdiente ein Schweinegeld, baute ein Imperium auf. Er war verheiratet, hatte zwei Söhne. Er hatte Macht. Er beobachtete den Werdegang meiner Mutter genau. Sah zu, wie sie unterdrückt wurde. Sah genau zu, wie sie die brutalen Übergriffe des Vaters auf die eigene Tochter duldete, sah zu, wie sie schlimmste Verletzungen ihres Kindes kaschierte, Taten verdeckte, meinen Vater deckte. Er analysierte, dachte nach, begriff. Der Hass dieser Frau auf ihre eigene Tochter. Die Tochter als Opferlamm. Die Tochter als Preis. Er testete an. Prüfte sorgfältig. War diese Frau beeinflussbar? Waren da Stärken, von denen er nichts wusste? Begehrte sie auf? Hatte sie Rückgrat? Loyalität zu sich selbst? Zu anderen Personen? Zu ihrem Kind? Die wichtigste Frage aber war: Konnte er diese Frau steuern? Konnte er diese Frau manipulieren?
»Wenn du deine eigene Geschichte mal von außen beleuchtest, dann siehst du das, was ich sehe. Der Kerl hinterlässt nur Leichen. Pass auf: Der kennt deine Eltern, kriegt das ganze Theater mit. Irgendwas stimmt da auch mit der Ehefrau nicht. Keine Ahnung. Halten wir uns an die Fakten. Also, der kriegt mit, dass deine Mutter abhauen will. Verständlicherweise. Dann schaltet er sich ein. Spielt den Retter. Beginnt ein Verhältnis mit deiner Mutter. Du bist hier, an dieser Stelle schon, mitten drin in der Manipulation.« Patrizia warf sich die langen Haare zurück. Sie war völlig in ihrem Element. Kriminalhauptkommissarin. Wahnsinn. Drei silberne Sternchen. Ich hatte zwei grüne. »Hörst du mir zu? Kannst du folgen?«
»Ja sicher kann ich folgen. Mach weiter. Ich will das begreifen.«
Hektisch blätterte Patrizia in meinen Tagebüchern. Sie zerrte Textpassagen heran, die ich völlig unwichtig fand, die aber wichtige Puzzleteilchen darstellten. Ohne Patrizia hätte ich überhaupt nichts begriffen. »Hier. Diese Stelle zum Beispiel. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum er nicht eher an dich rangegangen ist. Immerhin warst du in seiner unmittelbaren Nähe. Und jetzt kommtʼs. Hier stehtʼs:
»›Jürgen ist gestern wieder nach Wiesbaden gefahren. Immer wenn er nach Wiesbaden fährt, kauft er ohne Ende Geschenke. Für Simone. Seine Nichte ist das wohl. Mama hat ihm eine Szene gemacht, weil sie wieder nicht mitdurfte ...‹
Verstehst du, Christine. Er hätte doch eigentlich deine Mutter mitnehmen können, oder?«
Das stimmte. Patrizia hatte wieder mal Recht. Es würde interessant sein, herauszufinden, was diese Simone so machte.
»Hör mal, Patrizia. Sollten wir nicht mal nach Simone forschen? Ich meine, wenn ich nicht die Einzige war, dann müsste sie doch auch vernommen werden, oder?«
»Hab ich schon angeleiert. Die Kollegen in Wiesbaden wissen Bescheid. Die rufen an, sobald sie was wissen.«
Wir dröselten auf und ermittelten. Die Polizeiberichte aus Düsseldorf waren angekommen. Es stimmte, was ich über Norbert erzählt hatte. Er war immer wieder in der Psychiatrie. Schizophren. Manisch. Psychotisch. Wenn er wieder draußen war, rannte er über die Düsseldorfer Königsallee und drückte den verdutzten Passanten Tausendmarkscheine in die Hand. Nackt hielt er den Verkehr auf der dreispurigen Straße an und schrie: »Ich bin Jesus. Der Heiland. Euer Retter. Haltet an. Kehrt ab von diesem Weg. Nehmt dies zu meinem Gedächtnis!« Und wieder verteilte er die Geldscheine. Die Berichte dokumentierten einen Leidensweg mit verheerenden Folgen. »Der is nicht mehr. Hier.
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